Autor Uwe Tellkamp (53) hat einen faszinierenden Roman geschrieben. Von Wessis fühlt er sich meist bevormundet.

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Was zu beweisen war: Einem notorischen Querulanten wie Uwe Tellkamp flicht die Mitwelt keine Kränze. Der neue, 900 Seiten dicke Roman des Dresdner Autors war vergangene Woche noch gar nicht ausgeliefert, als Deutschlands Großfeuilletonisten wie auf Kommando die Hände zur Abwehr erhoben. Der "Fall" Tellkamp, lautete der Tenor, habe sich mit der Publikation dieses Prosaziegels gewissermaßen von selbst erledigt. Der Schlaf in den Uhren, so der Titel des neuen Werks, sei ein Ungetüm. Eine Art Frankensteins Monster, von einem Stümper zusammengepfuscht.

Der sehnlich erwartete Nachfolgeband von Der Turm (2008) ist jetzt, nach langem Zögern des Suhrkamp-Verlags, endlich zur Veröffentlichung freigegeben worden. Zur Erinnerung: Der Turm war nicht irgendein Romanbauwerk. Dieses durchaus nicht unkomplizierte Buch wurde bis heute rund eine Million Mal verkauft.

Dieselben Rezensenten, die heute ihren Groll auf Tellkamp pflegen, begrüßten damals die Dresdner Milieuschilderung als den ultimativen Nachwenderoman. Hier söhnte jemand die Lust an der Thomas-Mann-Haftigkeit gediegenen Erzählens mit dem akuten Interesse an Zeitgeschichte aus. Tatsächlich: Auch im sächsischen Abschnitt des Arbeiter-und-Bauern-Staates hatte es also Großbürger gegeben, die gediegene Villen bewohnten. Ein gewisser Hang zur Häkelei von Prosaspitzendeckchen wurde dem Wälzer nachgesehen. Breit war schön!

Zwang des Aneckens

Tellkamp wurde zum Star. Prompt lief alles schief: für ihn, mehr noch aber für seine Bewunderer. Der Buchpreis- und Nationalpreisträger entwickelte die Marotte, unentwegt "anecken" zu müssen. Seither lebt Tellkamp in der Gewissheit, ihm würde bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit vom "Mainstream" der Mund verboten.

Als er 2018 mit dem Dresdner Kollegen Durs Grünbein auf einem Podium beisammensaß, beklagte er heftig die Asylpolitik des Bundes. "Über 95 Prozent der Flüchtlinge" seien überhaupt nur ins Land gekommen, um "in die Sozialsysteme einzuwandern".

Als sich die Ersten ein wenig ungläubig die Augen rieben, legte der Großschriftsteller bereitwillig nach. Eng sei der "Meinungskorridor" für ihn und seinesgleichen geworden. Uwe Tellkamp entdeckte sein Herz für Pegida-Leute. Er schloss sich mit Konspirationszirkeln der Rechten zusammen und fand willige Helfer in einschlägigen Ostkreisen, in der Buchhändlerin Susanne Dagen in Loschwitz, in dem Rechts-außen-Verleger Götz Kubitschek. Manche zogen den Turm irritiert ein weiteres Mal aus dem Regal. Hatten sie bei ihrer begeisterten Erstlektüre irgendetwas übersehen?

Jetzt knallt Der Schlaf in den Uhren den Rezensenten wie ein besonders rätselhafter Stein des Anstoßes auf den Tisch. Zu unhandlich, zu geheimnisvoll, zu wirr. Tatsächlich: Jede halbwegs seriöse Gesamtlektüre des Mammutwerks nimmt epische Zeitmaße in Anspruch. Tellkamp bewegt Figuren, die man aus Der Turm bereits zu kennen meint, auf völlig neues Terrain.

Mysteriöse Behörde

Der Ich-Erzähler Fabian Hoffmann gehört einer mysteriösen Infobehörde an, der "Tausendundeinenacht"-Abteilung. Im Dunkel eines Wabenbaus, der aus kuriosen Referaten und Büros besteht, ist nicht nur gut munkeln. Eine sprichwörtliche Flut von Akten, Vermerken, Kladden, "Vorgangsbiografien" umspült zwei (fiktive) Eiländer, eine westliche und eine östliche "Kohleninsel".

Beide scheinen unterirdisch gelegen. Eine Art ewiges, unauslöschliches "Ministerium für Sicherheit" fungiert hier als die allen gemeinsame Schaltzentrale. Man muss sich das Zentrum von Tellkamps Roman als Riesentransformator vorstellen. Die Schriftzeugnisse der "Ossis" geraten in die Obhut einer neuen Supra-Behörde.

Tellkamp träumt das Modell totaler Bürokratie zu Ende. Deutschland heißt hier "Treva". So nannte man in grauer Vorzeit eine Siedlung an der Mündung der Alster in die Ebbe. Zugleich verschmilzt die Stadtlandschaft von Berlin (in Teilen auch Bonns) mit derjenigen von Dresden. Wäre man Tellkamp von vornherein unfreundlich gesinnt, man könnte leichthin die Küchenpsychologie gegen ihn mobilisieren. Der Autor wäre dann nichts weiter als ein Paranoiker. Für einen solchen hängt alles mit allem zusammen.

Das unsichtbare Herz von "Treva" pumpt unermüdlich Infos in die gleichgeschalteten Kanäle. Diese von Tellkamp erfundene Öffentlichkeit nährt bekannte Nattern an ihrem Busen. Der Spiegel heißt hier beispielsweise "Die Wahrheit", sein Rudolf Augstein nennt sich "Brandenstein", und dessen Motto lautet: "Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn."

Geschrieben hat ihn jetzt doch Uwe Tellkamp. Und die Bodenpfleger der Meinungskorridore müssen damit leben, dass einer der aktuell wahnwitzigsten Sprengmeister der Romanform ein politischer Sauertopf ist.

Spöttisch bis zänkisch

Als er letzthin der Süddeutschen Zeitung ein Interview gab, zeigte sich Tellkamp wiederum spröde bis zänkisch. Fragt man diesen Könner, der über den Schliff von Rasiermessern genauso hinreißend schreiben kann wie über Feldgurken oder Nachtschwärmer, nach seinen Ansichten, wird er dünnlippig. Warum er die "Charta 2017" unterzeichnet habe, deren Titel eine Anspielung auf die legendäre "Charta 77" enthalte? Im neuen Schriftstück wird so trostlos wie unsinnig vor einer "Gesinnungsdiktatur" in der aktuellen Bundesrepublik gedroht. Sofort richtet Tellkamp die Stacheln auf: "Wer definiert, was die Charta darf und was nicht?"

Auf den wechselnden Zeitebenen seines Romans ist Uwe Tellkamp ein famoser Vermittler. Er springt zwischen den Zeiten hin und her, wechselt zwischen ihren Sensibilitäten und Erfordernissen. Aus Anne, der ehemaligen Kinderkrankenschwester in der verrottenden DDR (Der Turm), ist jetzt die Bundeskanzlerin geworden, Angela Merkel persönlich: leicht erkennbar am hängenden Mundwinkel und am "Nichtzündenden" ihrer Gesamterscheinung.

Den Dichter Tellkamp kostet es ein Fingerschnippen, und er blendet das hohl tönende Stasi-Deutsch hinüber in den gesucht elaborierten Ton bürgerlicher Wohlanständigkeit. Die Tellkamp-Prosa ist immer auch Elb-Barock, ein von Potemkin und Konsorten errichtetes Sachsenschloss. Dieses besteht aus tausend wundersamen Kammern. In ihnen planen die Behörden von einst und jetzt, von hüben und drüben, geheimdienstliche Operationen. Alles das geht auf Kosten der Menschen. Der Schlaf in den Uhren ist ein gargantueskes Machwerk ohne Plot: So etwas muss man sich erst einmal trauen.

Aber angeblich könne man in Deutschland – wo solche im besten Sinne zumutungsreichen Bücher noch verlegt werden – nicht mehr "frei reden". Das sagt Tellkamp, der den Widerspruch, auf den seine rechtslastigen Aussagen stoßen, mit Zensur verwechselt.

Zweierlei Phänomene

So sieht man sich schweren Herzens veranlasst, den Fall Tellkamp in zwei nur lose miteinander verknüpfte Phänomene aufzuteilen. Da ist der Prosakünstler, kühner als fast alle Konfektionsschreiber neben ihm. Und dann gibt es noch die dauerbeleidigte Leberwurst Ost. Die heißt genauso wie der Autor. (Ronald Pohl, 18.5.2022)