Boom: Künstlerinnen der Pop-Art wie Marjorie Strider spielten mit weiblicher Sexualität und ihren Körpern.
Foto: Michael Chutko

Die Handschellen sind echt und funktionieren. Falls man die Lust verspürt, sich über den Dächern von Graz anzuketten, ist das die einmalige Möglichkeit. Von der Decke der gläsernen Aussichtsplattform des Grazer Kunsthauses baumeln Metallketten mit dutzenden Handschellen. Keine Sorge: Den Schlüssel hat der Security-Mitarbeiter. Mit Fetisch hat diese Installation jedoch weniger zu tun. Zwar spielt die Arbeit der italienischen Künstlerin Monica Bonvicini mit dem Gegensatz von privat und öffentlich sowie der Erfahrung krasser Exponiertheit, geht aber weiter: Sie fordert direkte Ansprache und körperliches Erleben des Publikums – wie kann man aus tradierten Rollenbildern buchstäblich ausbrechen?

Den Widerspruch, dass das Häusliche Schutz und Zelle sein kann, greift die in Berlin lebende Künstlerin, die lange an der Akademie der bildenden Künste unterrichtete und 2019 im Belvedere 21 ausstellte, in ihrer aktuellen Solo-Show I Don’t Like You Very Much auf. In einer spektakulären Rauminstallation nimmt Bonvicini das Holzgerüst eines Einfamilienhauses im Maßstab eins zu eins (!) auseinander und schleudert seine Einzelteile quasi durch die Kuppelhalle des Kunsthauses: Ein halbes Giebeldach lehnt schräg in den Raum, zwei Stockwerke türmen zerteilt aufeinander.

Fetisch oder Kunstinstallation? Die Schlüssel hat jedenfalls der Security-Mitarbeiter.
Foto: Kunsthaus Graz / J.J. Kucek

Voyeur allein zu Haus

Es zählt zu Bonvicinis Spezialitäten, Macht und Geschlecht mit Architektur in Verbindung zu setzen und gesellschaftliche Konstruktionen zu hinterfragen. Wenn es sein muss, mit Gewalt. Auf eigene Gefahr ist diese brachiale Ruine auch zu betreten. In deren Hauptraum breitet sich ein Teppich mit Fotografien abgestreifter Hosen aus. Wie textile Alltagsleichen erinnern sie an die Körper, die sie einst getragen haben. Wo diese sind, bleibt in Bonvicinis dystopischer Szenerie ungeklärt. Intim berührt blickt man als Voyeur in diesem leeren Haus umher und entdeckt Poster aus Erotikkalendern, die in den Winkeln des Gerüsts angebracht sind.

Exponiert steht man vor diesen halbnackten Frauen, die lasziv in die Kamera blicken. Festgefahrene Kategorien wie häuslich, weiblich, privat, erotisch existieren an diesem Ort nicht mehr – wie das Gebäude wurden sie längst zerlegt.

Eingeweide eines Einfamilienhaus: Monica Bonvicini setzt Macht und Geschlecht mit Architektur in Verbindung und hinterfragt so gesellschaftliche Konstruktionen.
Foto: Kunsthaus Graz / M. Grabner

Hinein in den Kunstkanon

Ähnlich einem theoretischen Unterbau zu dieser feministischen Selbstermächtigung kann die im ersten Stock des Museums laufende Ausstellung verstanden werden. Dort haben sich nämlich die Amazons of Pop! Künstlerinnen, Superheldinnen, Ikonen 1961–1973, so der Titel, zur Gruppenversammlung getroffen. Es sind die weiblichen Vertreterinnen der grellbunten Welt der Pop-Art, die in den letzten Jahren peu à peu in den Fokus gerückt beziehungsweise überhaupt erst entdeckt wurden.

Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die 2010 in der Wiener Kunsthalle gezeigte und vielgelobte Schau Power up – Female Pop Art, die von Angela Stief konzipiert wurde. Heute Direktorin der Albertina modern in Wien, holte sie damals als Kuratorin Künstlerinnen wie Evelyne Axell aus der Versenkung und hinein in den Kunstkanon.

Die Ausstellung Schau "Power up – Female Pop Art", die 2010 in der Kunsthalle Wien stattfand, entdeckte Künstlerinnen wie die belgische Popmalerin Evelyne Axell wieder – und holte sie in den Kunstkanon.
Foto: Paul Louis

An diese Aufarbeitung und Neubewertung, sagt Kuratorin Katrin Bucher Trantow, wollte man mit der umfassenden Ausstellung (etwa 40 Positionen) in Graz anknüpfen und sie "konsequent weiterdenken". In Kooperation mit der Kunsthalle zu Kiel wurde jene vom Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain (Mamac) in Nizza konzipiert und in Graz mit der noch bis Ende 2022 amtierenden Kunsthaus-Direktorin Barbara Steiner um österreichische Künstlerinnen erweitert.

Am Würstchen lutschen

Neben internationalen Namen wie Niki de Saint Phalle und Judy Chicago finden sich Arbeiten von Angela Hareiter, Valie Export, Kiki Kogelnik oder Auguste Kronheim. Schnell merkt man, dass der Begriff der Pop-Art hier sehr weit gefasst wird – und deshalb auch von Tendenzen und Ausläufern die Rede ist. Auch der Kanon soll herausgefordert werden. Abgesehen von poppigen Farben und Warenfetischismus in Comic-Ästhetik stehen weibliche Sexualität, provokante Nacktheit und selbstbewusste Körper im Zentrum: Natalia LL lutscht genüsslich an einem Würstchen, Carolee Schneemann lässt sich beim Sex zusehen, und Dorothy Iannone zeichnet verspielte Geschlechtsteile.

In ihrer Videoarbeit lutscht die polnische Künstlerin Natalia LL an einem Würstchen, saugt an ihren Fingern und lässt eine milchige Flüssigkeit aus ihrem Mund tropfen.
Foto: Kunsthaus Graz / N.Lackner

Auch wenn die Ausstellung ihre Spannung nicht durchweg halten kann und zum Ende hin etwas ausfranst, gelingt es, eine beachtliche Bandbreite an weiblichen Stimmen zu vereinen. Die Kombination mit der gelungenen Installation von Bonvicini spannt einen ungezwungenen Bogen – und springt auf den Trend auf, vermehrt Kunst von Frauen auszustellen. Manchmal geht’s eben nur mit Gewalt.(Katharina Rustler, 18.5.2022)