Die finnische Armee gilt als hochgerüstet. Künftig steht sie als Teil der Nato Russland im Norden gegenüber.

Foto: APA / AFP / Alessandro Rampazzo

Endlose 782 Kilometer lang zieht sich die Fernstraße R21 vom russisch-karelischen Städtchen Medweschjegorsk bis nach Murmansk nördlich des Polarkreises. Gesäumt von Pinien, Rottannen und Birken gibt der meist zweispurig ausgebaute Weg seine eigentliche Bedeutung erst bei näherer Betrachtung preis.

Mit dem Auto ist die R21 die einzige Verbindung vom russischen Kernland rund um Sankt Petersburg in den hohen Norden der Halbinsel Kola, deren Ausläufer 1.343 Kilometer lang an Finnland und – für gerade einmal 198 Kilometer rund um den Grenzposten Kirkenes – auch an Norwegen grenzen.

Atomarer Hotspot

Weil inmitten der unwirtlichen Tundra an der Barentssee Russlands Nordflotte samt ihren mit ballistischen Raketen und atomaren Sprengköpfen gerüsteten U-Booten vor Anker liegt, blickt man im Kreml mit Sorge auf die asphaltene Lebensader. Ob Russland auf einen atomaren Erstschlag noch reagieren könnte, die sogenannte Zweitschlagsfähigkeit, hängt laut den Fachleuten von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu "etwa zwei Dritteln" von den U-Booten in Seweromorsk bei Murmansk ab – Russlands einziger eisfreier Hafen in der von den Weltmächten heißbegehrten Arktis. Im Konfliktfall sei man daher auf eine rasche Eskalation vorbereitet, heißt es in dem im Oktober 2021 – vor dem Ukraine-Krieg – publizierten Bericht.

Grafik: STANDARD

Der anstehende Nato-Beitritt Schwedens und – vor allem – Finnlands wird auch deshalb im Kreml nun als Bedrohung seiner Dominanz im Norden betrachtet. Die wichtige Fernstraße wäre dann – fiktiv – in Reichweite von Nato-Bodentruppen und böte sich möglichen Angreifern weit mehr noch als jetzt, wo nur Norwegen ein Nato-Anrainer Russlands im Norden ist, als Einfallstor zur hochgerüsteten Halbinsel Kola an.

Schließlich schlängelt sich die R21, die die militärisch so wichtigen Häfen im Norden zusammen mit der Eisenbahnstrecke versorgt, an manchen Stellen gerade einmal 200 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt durch die Wälder Kareliens – in russischen Maßstäben ein Steinwurf.

Bastion wird verstärkt

Nicht nur das: 92 Kilometer südlich von Murmansk, nahe dem ebenfalls an der R21 gelegenen Städtchen Olenegorsk, ist zudem ein Gutteil von Russlands Langstreckenbombern stationiert – auch sie bilden ein Rückgrat der Kreml'schen Nukleardoktrin.

Schon deshalb baut Russland Kola nun weiter zu einer noch zu Sowjetzeiten ersonnenen Bastion im hohen Norden aus – vorerst "rein defensiv", wie es von der SWP heißt.

Ein neues Wettrüsten ist vorprogrammiert. Ende April kündigte Russlands Verteidigungsminister Sergej Schojgu an, wegen der "dramatischen Verschlechterung der militärischen und politischen Lage in Europa" mehr als 500 "fortgeschrittene Waffensysteme" auf der Halbinsel zu stationieren, auch von neuen Raketenbunkern in einer Bucht nahe Murmansk ist die Rede.

Cold Response

Aber auch die Nato mischt schon vor dem am Dienstag in den Parlamenten beschlossenen Beitritt Finnlands und Schwedens fleißig mit. Beim Großmanöver Cold Response in der nordnorwegischen Region Ofoten übten im März 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Nato-Staaten für den Ernstfall – gerade einmal 600 Kilometer von der Halbinsel Kola entfernt.

Ein anderer Grund für die Bedrohung, die man im Kreml dieser Tage immer wieder ins Treffen führt, hat hingegen nichts mit den Nato-Plänen Helsinkis und Stockholms zu tun: Weil das Meereis im hohen Norden klimabedingt immer weiter zurückgeht, verliert Russland eine natürliche Barriere – gegen wen auch immer. (Florian Niederndorfer, 18.5.2022)