Erster Volksgerichtsprozess in notdürftig wiederhergestellten Wiener Landesgericht am 17. August 1945 wegen der Ermordung von 102 Juden: vier Schuldsprüche. Drei der Täter wurden zum Tode verurteilt.

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"Der Wert meiner Tätigkeit ist die Warnung an die Mörder von morgen, dass Verbrechen nie straflos begangen werden können." Dieses Zitat Simon Wiesenthals findet sich auf der letzten Seite des Endberichts der Arbeitsgruppe zur "Ausforschung mutmaßlicher NS-Täter:innen", der am Dienstag im Justizministerium im Beisein von Justizministerin Alma Zadić und Bildungsminister Martin Polaschek präsentiert wurde. Die Forschungsgruppe arbeitet seit 2010 den beschämenden Umgang der österreichischen Nachkriegsjustiz mit NS-Verbrechen auf.

Sie ist Teil der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN), die erst 1998 eingerichtet wurde und deren Präsident Polaschek einst war.

Vorbild Ludwigsburg

40 Jahre früher nahm in Deutschland die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ihre Arbeit auf. Sie ist mit Ressourcen ausgestattet, die die Österreicher neidvoll nach Ludwigsburg blicken lassen kann. Die staatliche Behörde hatte zu Beginn eine über hundertköpfige Belegschaft, wie ihr Leiter Thomas Will am Dienstag in Wien erläuterte. Heute sind es immerhin noch rund 20. Dass in Wien 2010 die Arbeitsgruppe eingerichtet wurde, war auch eine Reaktion auf die schlechte Reputation im Ausland. Österreich sei "ein Paradies für NS-Verbrecher", sagte der israelische Historiker Efraim Zuroff 2006 im STANDARD-Gespräch.

94 Prozent aller Urteile zu NS-Verbrechen fielen zwischen 1945 und 1955. "Der Wendepunkt war der Staatsvertrag", sagt die Präsidentin der FStN Ilse Reiter-Zatloukal. Obwohl die junge Republik den ehemaligen Besatzern versprochen hatte, sich um die Aufarbeitung zu kümmern, verhinderte man sie. Etwa durch Verjährungssonderregelungen für zum Tatzeitpunkt unter 21-Jährige, eine Kombination aus geltendem Tatortrecht und österreichischem Recht und nicht zuletzt den Einsatz von Geschworenengerichten.

"Schlussstrichmentalität"

Unter den Geschworenen herrschte jene "Schlussstrichmentalität" (Reiter-Zatloukal), der Österreichs Politik und Justiz nichts entgegensetzten. Zwischen 1956 und 1975 gab es nur mehr 20 Schuldsprüche und 22 Freisprüche bei rund 100 Untersuchungsverfahren.

Unter SPÖ-Justizminister Christian Broda kam die Verfolgung von NS-Tätern 1971 bis 1974 vollständig zum Erliegen. Seit 1975 gab es kein Urteil mehr, nur die Anklage gegen den Euthanasie-Arzt Heinrich Gross 2000. Die Arbeitsgruppe zieht in ihrem Endbericht bitter Resümee. Bei der Sichtung von rund 500 Volksgerichtssachen über Tötungsdelikte und andere NS-Verbrechen wurden zwar einige Ermittlungen angeregt, aber die Täter waren mittlerweile tot, nicht auffindbar oder durch erwähnte Verjährungsfristen geschützt.

Signal an Verbrecher heute

Zumindest im letzten Punkt konnte die Arbeitsgruppe eine Änderung anstoßen, so Historiker Winfried Garscha. Seit 2015 sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen von der Verjährung für 18- bis 21-Jährige ausgenommen. Das sei zumindest ein Signal für jüngere Kriegsverbrechen wie in Srebrenica oder der Ukraine. An die Ukraine erinnerte auch die Justizministerin in ihrer Begrüßungsrede. Minister und Rechtshistoriker Polaschek warnte in seiner Rede auch vor der Verharmlosung des Holocaust im Zuge der Corona-Demos der letzten beiden Jahre.

"Ohne das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gäbe es keine Forschungsstelle zur Nachkriegsjustiz in Österreich", betonte die Leiterin der Arbeitsgruppe, Claudia Kuretsidis-Haider. Man arbeite ehrenamtlich, nur der Forscher Siegfried Sanwald ist geringfügig angestellt. Noch dazu komme man in den letzten Jahren immer schwerer an Akten. Landesarchive und Landesgerichte schicken die Forschenden im Kreis.

Sanwald erklärte die Verbrechenskategorien, mit denen sich die Gruppe beschäftigte: Die häufigsten waren Denunziationen mit Todesfolge (38,6 Prozent) sowie Tötungsverbrechen in der Endphase (27) und in Haftstätten (14,7).

Für die Zukunft plant man eine öffentlich zugängliche Datensammlung der Judikatur zu NS-Verbrechen im Netz. Polaschek betonte, dass er sie sehr begrüßen würde. (Colette M. Schmidt, 18.5.2022)