Nicht immer tauchen mit einer Corona-Infektion auch Symptome auf – viele Infektionen bleiben darum oft unerkannt.

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Die Einschläge kamen häufiger und näher: Corona traf Freunde, deren Kinder, die Großeltern, die meisten Arbeitskollegen. Bisher verschont gebliebenen Menschen konnte die eigene Corona-Ansteckung in den vergangenen Monaten oft nur noch als Frage der Zeit erscheinen. Manche haben aber selbst der gerade abflauenden Omikron-Welle mit Millionen Infizierten bundesweit standgehalten, sich also in über zwei Jahren Pandemie immer noch nicht wissentlich mit Sars-CoV-2 infiziert.

Wenn man Menschen fragt, die sie zu der Gruppe zählen, hört man eine ganze Reihe von Vermutungen über mögliche Ursachen. Eine mögliche Theorie könnte sein, dass regelmäßige lange U-Bahn-Fahrten womöglich abhärten, weil man immer wieder kleine Virusmengen abbekomme. Um es vorwegzunehmen: "Diese These fällt in das Reich der Spekulationen", sagt der Essener Virologe Ulf Dittmer.

Keine eindeutige Antwort

Andere bisher nicht Infizierte stellen sich ein gutes Zeugnis beim Einhalten der Corona-Regeln aus. Manche halten sich auch schlicht für Glückspilze, weil sie sich weder bei einer später positiven Kontaktperson noch beim Clubbesuch angesteckt hätten. Einige zweifeln, ob sie das Virus nicht doch schon hatten, nur unbemerkt und unbestätigt. Zum Beispiel in der Zeit, als Tests kaum verfügbar waren. Oder als man Symptome hatte, die Tests aber nie anschlugen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass es an falscher Probenentnahme oder dem Timing lag.

Wissenschaftliche Erkläransätze zu der Frage gehen tiefer. Die eine definitive Antwort, die Nichtansteckungen erklärt, gibt es aber nicht. Vielmehr kann der Schlüssel in einer Kombination verschiedener Umstände liegen. "Es gibt einige Hypothesen, die plausibel erscheinen", sagt Leif Sander, der die Klinik für Infektiologie an der Berliner Charité leitet. Zunächst einmal muss man bedenken, dass ein gar nicht mal kleiner Teil der Fälle weitgehend oder völlig unbemerkt verläuft. In einer Überblicksarbeit von Ende 2021 im "Jama Open Network" bilanzierten die Autoren, dass sogar bei bestätigten Corona-Infizierten rund 40 Prozent zum Testzeitpunkt keine Krankheitsanzeichen hatten. Grundlage waren knapp 100 verschiedene internationale Studien mit Daten von insgesamt rund 30 Millionen Menschen.

Die Testhäufigkeit spielt vor diesem Hintergrund eine Rolle beim Erkennen von Infektionen. Wer sich eher unregelmäßig testen lässt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine sehr milde oder asymptomatische Infektionen zu übersehen. Bei häufigen Tests spürt man eher auch milde Fälle auf.

Genetik ein möglicher Schlüssel

Abgesehen davon können auch die Gene eine Rolle spielen. "Es gibt Menschen, die aufgrund genetischer Merkmale zum Beispiel schlecht mit Malaria oder HIV infiziert werden können. In gewissen Abstufungen wird es das auch bei Sars-CoV-2 geben", sagt Sander. Komplett verstanden seien die genetischen Faktoren aber noch nicht.

Ulf Dittmer, Direktor des Virologie-Instituts am Uniklinikum Essen, erklärt das so: Es spielen die genetische Ausstattung des Immunsystems – sogenannte HLA-Moleküle – für den Schutz vor Covid-19 eine wichtige Rolle. Außerdem gibt es Studien, die den Einfluss von Blutgruppen bereits untersucht haben: Hier könnte nicht nur die Schwere der Erkrankung, sondern vielleicht auch die Übertragung von Sars-CoV-2 eine Rolle spielen.

Schutz der Impfung unterschätzt

Eine weitere Theorie setzt beim Impfschutz an, der möglicherweise doch unterschätzt wird: Die Spiegel der Antikörper im Blut, die in den Körper eindringende Coronaviren unschädlich machen können, sinkt in der Zeit nach der Impfung zwar ab. "Der Schutz bleibt aber trotzdem über Monate signifikant. Auch das reduziert immer noch Ansteckungen", sagt Sander. Immunantworten auf die Impfung unterscheiden sich darüber hinaus von Mensch zu Mensch. "Wenn die Antwort besonders gut ausfällt, kann auch die Kombination aus Impfung und einer vorherigen Infektion mit einem der vier normalen Erkältungs-Coronaviren eine Rolle spielen", gibt der Charité-Professor zu bedenken.

Virologe Dittmer sagt, man wisse mittlerweile, dass eine besondere Subklasse von Antikörpern einen guten Schutz gegen eine Corona-Infektion vermittle. "Die Messung ist aber kompliziert, daher wird vorerst auch weiterhin niemand wissen, ob er diese Antikörper hat oder nicht."

Bei Kindern gibt es Sander zufolge das Phänomen, dass sie generell ein stärker aktiviertes angeborenes Immunsystem haben, das Immunsystem sei sozusagen häufig voraktiviert. Zudem gebe es den Effekt, dass Menschen direkt nach einem Infekt für ein paar Tage generell weniger empfänglich sind für den nächsten lauernden Erreger. "Das liegt unter anderem an den sogenannten Interferonen, besonderen Abwehrstoffen in der Schleimhaut, die im Fall eines Kontakts in dem Zeitfenster auch die Empfänglichkeit für Sars-CoV-2 reduzieren."

T-Zellen könnten Viren unschädlich machen

Ein weiterer denkbarer Faktor: Bei manchen Menschen schmeißt das Immunsystem das Virus womöglich sehr schnell wieder aus dem Körper heraus, wie Sander sagt. "In einer schwedischen Studie haben Forscher bei Menschen, die nach Kontakten zu infizierten Haushaltsmitgliedern nicht positiv geworden sind, spezifische T-Zellen gefunden – ein Zeichen, dass sich deren Immunsystem durchaus mit Sars-CoV-2 auseinandergesetzt hat, auch wenn eine Infektion und auch Antikörper gegen das Virus nicht immer nachweisbar waren."

Was folgt daraus? Wer glaubt, bisher verschont geblieben zu sein, könnte die Infektion doch schon hinter sich haben. Oder von bestimmten vorübergehenden Effekten, noch unbekannten genetischen Faktoren und Zufällen profitiert haben. Sanders Fazit: "Dass man Corona bisher nicht hatte, heißt nicht, dass man für alle Zeit sicher ist. Das kann schon mit einer neuen Virusvariante oder situationsabhängig ganz anders aussehen." (APA, 18.5.2022)