Im Gastblog rät die Sexualberaterin Nicole Siller dazu, die Sprachlosigkeit zu verlassen und über die eigenen sexuellen Vorlieben zu reden.

Wer mit mir arbeitet, möchte das eigene und gemeinsame Beziehungs- und Sexualleben verbessern und verändern. Da ist es natürlich wichtig zu wissen, wie es jetzt ist, was gut ist, was nicht oder was fehlt. Wenn es um die Sexualität geht, frage ich natürlich auch nach den persönlichen sexuellen Bedürfnissen, Gewohnheiten, Sehnsüchten, Gelüsten, Erregbarkeiten, Träumen und mehr. Ja, klar ist es oft eine Herausforderung, über Sex zu sprechen, vor allem über die eigene, ganz persönliche Sexualität, denn das ist ja dann doch noch einmal etwas anderes, als über "den Sex" zu reden.

Wenn Worte fehlen

Es tut weh, wenn Menschen, die teilweise schon Jahre zusammenleben und miteinander versuchen, ihre Sexualität zu leben, noch nie ehrlich und offen miteinander über ihre sexuellen Wünsche gesprochen haben. Wenn jede und jeder macht, was sie oder er irgendwann und irgendwo aufgeschnappt hat oder was man immer schon getan hat. Wenn auf die Fragen "Was, glauben Sie, genießt Ihre Partnerin oder Ihr Partner besonders?" oder "Weiß Ihre Partnerin oder Ihr Partner, was Sie sich wünschen?" fragende Blicke, aber keine Antworten kommen. Manchmal stellt sich dann heraus, dass man mit der besten Freundin oder dem Lieblingskumpel schon darüber redet – aber gehen die mit uns ins Bett?

Warum erwarten wir beim Sex, wortlos zu wissen?

Ich gebe zu, manchmal bin auch ich ein bisschen sprachlos ob der Sprachlosigkeit in Beziehungen. Scheinbar hängen wir in unserer ach so aufgeklärten Welt immer noch in heteronormativen, verkrusteten Mustern, Erwartungen und Bildern. Scheinbar ist es für viele, vor allem Frauen, immer noch tabu, sich selbst als lustvolles, sexuelles Wesen zu erleben, zu entfalten, auszuprobieren. Ganz besonders, wenn es ein bisschen abseits der "Norm" ist. Aber ganz ehrlich: Wer will wirklich wissen, was "die Norm" überhaupt ist, und erregt uns die Norm und nur die Norm?

Sagen, was ist – vor allem, wenn es um sexuelle Bedürfnisse geht!
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Sexuelle Bildung, auch für Erwachsene, wäre immer wieder gut. Warum erwarten wir, dass "Mann immer will" und hoffentlich auch kann, dass er Frau selbstverständlich laufend begehrt, dass er ganz ohne Worte von selbst weiß, was Frauen in dem Augenblick wirklich wollen? Warum muss Sex etwas mit Penetration zu tun haben? Warum endet Sex, wenn er gekommen ist? Warum glauben immer noch viele Menschen, Frauen kommen durch Geschlechtsverkehr alleine zum Orgasmus? Warum denken wir, dass ältere und alte Menschen keinen Sex mehr haben wollen oder können?

Seit einigen Jahren werden zumindest in manchem Biologiebuch endlich auch die weiblichen Geschlechtsteile realistisch und mit den passenden Worten Vagina und Vulva und der Klitoris in ihrer vollen Größe dargestellt. Ja, auch das macht im Jahr 2022 sprachlos, aber immerhin, wir sind auf dem Weg.

Höchstpersönliche Sexualität

Ich bin ganz sicher, jeder von uns sehnt sich nach höchstpersönlicher Sexualität, also danach, dass es wirklich um uns selbst und einander geht in unseren intimen Begegnungen. Denn so könnten wir ganz lebendige Augenblicke und Momente für uns und miteinander genießen, egal ob immer alles "normal" ist oder nicht. Vor allem auch, wenn wir erspüren würden, was wir selbst gerade erregend finden und worauf wir Lust haben, und einander in unsere Bedürfniswelten einladen könnten. Darf Sexualität Freude und Spaß machen? Verlassen wir doch die Sprachlosigkeit. Im ersten Schritt ist es klug, auf Vorwürfe über Vergangenes zu verzichten, es ist deutlich effektiver, im passenden Moment Wünsche zu äußern. Wohlwollende Worte könnten dabei wirklich helfen. (Nicole Siller, 20.5.2022)