Nicht alle Eltern wollen genau wissen, was in der DNA ihres Kindes steckt. Vor allem dann nicht, wenn es um Erkrankungen geht, die erst im Erwachsenenalter auftreten können.

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Kaum ist ein Baby auf der Welt, muss es schon zu den ersten Untersuchungen. Es wird gewogen, seine Körperlänge wird gemessen, sein Gaumen abgetastet, seine Atmung kontrolliert und sein Blut untersucht. Wenige Tage später folgen dann weitere Untersuchungen. Sie sollen helfen, möglichst schnell auf gesundheitliche Probleme des Babys zu reagieren.

Geht es nach einigen Forschenden, sind diese Untersuchungen nicht genug. Sie wollen künftig kurz nach der Geburt nicht nur herausfinden, worunter ein Baby akut leidet, sondern auch, worunter es in möglicherweise zehn, zwanzig, dreißig oder gar fünfzig Jahren leiden könnte. Dafür wollen sie das gesamte Genom eines Neugeborenen auf mögliche genetische Erkrankungen und Risiken hin analysieren, um frühzeitig gegen diese vorzugehen und damit Leben zu retten. Doch Kritiker warnen vor der Gefahr, dass die gewonnenen DNA-Daten in die falschen Hände gelangen könnten. Wie sinnvoll und sicher ist die sogenannte Genomsequenzierung bei Neugeborenen?

Tausende Erbkrankheiten

Die Liste an Erbkrankheiten ist jedenfalls lang. Weltweit sind mehr als 6.000 bekannt, und jedes Jahr werden neue entdeckt. Zumindest 600 genetische Erkrankungen sind behandelbar. Laut Studien wird bei rund fünf Prozent aller Menschen zwischen null und 25 Jahren eine genetische Störung festgestellt.

Auch wenn viele der Erkrankungen selten sind, das heißt, meist weniger als eine von 2.000 Personen davon betroffen ist, können die Folgen schwerwiegend sein: Betroffene können unter gesundheitlichen Problemen leiden, die Behandlung kann schwierig sein, wenn es insgesamt nur wenige Patienten gibt und die Symptome erst spät erkannt werden.

Bessere Behandlung

Seit Jahren arbeiten Forschende deshalb daran, das Erbgut von Menschen schon möglichst früh auf mögliche Defekte zu untersuchen. Eines der größten Projekte zur sogenannten Genomsequenzierung von Neugeborenen findet aktuell in Großbritannien statt. Dort will das öffentliche Unternehmen Genomics England bald das gesamte Genom von 200.000 Babys sequenzieren und auf mögliche Erkrankungsrisiken hin analysieren.

Die Forschenden versprechen sich davon, Erbkrankheiten früher zu erkennen und besser behandeln zu können. Zudem könnte das Erbgut verwahrt und zu einem späteren Zeitpunkt erneut analysiert werden, um möglicherweise neue Defekte oder Therapien zu entdecken oder später auftretenden Symptomen einer untersuchten Person schneller auf den Grund zu gehen, heißt es von den Wissenschaftern von Genomics England.

Auch in Harvard arbeiten Forschende daran, das gesamte Genom von Neugeborenen zu analysieren. Das Projekt Baby Seq erhielt erst kürzlich Förderungen, um das Genom von tausend Babys zu sequenzieren. In der EU soll das Projekt Screen 4 Care in den nächsten fünf Jahren Genomanalysen von Neugeborenen durchführen, um seltene Erberkrankungen schneller zu erkennen. Und auch in anderen Ländern wie etwa China und Australien gibt es ähnliche Projekte.

98 Prozent des menschlichen Genoms lassen sich noch nicht richtig interpretieren.
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Aussagekraft begrenzt

Ganz neu sind die Screeningprogramme nicht. Schon jetzt werden Neugeborene in Österreich im Rahmen eines Screenings auf angeborene Stoffwechselerkrankungen untersucht. Dadurch soll eine Behandlung möglich sein, bevor der Defekt einen Schaden verursacht. Im Vergleich dazu soll eine Genomsequenzierung allerdings Aufschluss über potenziell hunderte seltene Erbkrankheiten geben, die nicht nur im Kindesalter, sondern auch später im Leben auftreten können. Genomics England will etwa mehrere Hundert Genvarianten von Neugeborenen auf Risiken untersuchen, Baby Seq über tausend.

Doch wie viel verraten solche Tests über unser Leben und unsere spätere Gesundheit? "Momentan ist die Aussagekraft noch sehr eingeschränkt", sagt Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für medizinische Genetik und Humangenetik der Charité Universitätsmedizin Berlin, im Gespräch mit dem STANDARD. Zunächst müsse klar sein, dass man aus dem Genom eines Menschen weder auf dessen Eigenschaften noch auf viele andere bekannte Erkrankungen schließen könne.

Schwierige Interpretation

98 Prozent des menschlichen Genoms lassen sich zudem noch gar nicht richtig interpretieren. Auch unter den restlichen Prozent gebe es viele Genvarianten, die schwierig zu interpretieren seien, sagt Mundlos. Bei vielen verbreiteten Krankheiten wie etwa Alzheimer seien etwa lediglich ein Prozent der Erkrankungen durch genetische Mutationen vorhersagbar, bei Brustkrebs rund fünf Prozent.

Lediglich für einige seltene, schwere Erberkrankungen sei die Aussagekraft durch die Genomsequenzierung größer. Meist kann aber nicht vorhergesagt werden, wann und ob eine Krankheit ausbricht, sondern nur, ob es ein erhöhtes Risiko gibt, so Mundlos.

Wunsch nach Gewissheit

Umfragen in Großbritannien haben ergeben, dass viele Eltern gar nicht genau wissen wollen, was in der DNA ihres Kindes steckt. Wenn überhaupt, wollen viele nur von möglichen Erkrankungsrisiken im Kindesalter erfahren. Wenn das Kind älter ist, soll es selbst entscheiden können, ob es von möglichen Erkrankungsrisiken in späteren Jahren erfahren möchte. Zudem wollen Eltern Gewissheiten und keine Wahrscheinlichkeiten, ob und wann eine genetische Erkrankung bei ihrem Kind auftreten wird – was ihnen die Wissenschaft derzeit kaum bieten kann.

Neugeborene werden in Österreich bereits auf angeborene Stoffwechselerkrankungen untersucht.
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Laut Mundlos können Informationen über ein höheres Risiko für eine genetische Erkrankung aber durchaus hilfreich sein: Menschen können dann etwa Vorsorgeuntersuchungen oder operative Eingriffe machen, um das Risiko einer Erkrankung zu minimieren.

Trotzdem gebe es bei der Genomsequenzierung von Neugeborenen eine Reihe von ethischen Schwierigkeiten: Babys können nicht entscheiden, ob die Tests an ihnen durchgeführt werden sollen. Das sei vor allem bei Vorhersagen problematisch, die sich auf mögliche Erkrankungen im späteren Leben des Kindes beziehen. Die Informationen könnten möglicherweise das Recht des Kindes auf ein selbstbestimmtes Leben einschränken.

Zudem könnten die Daten falsch interpretiert werden und Verunsicherung hervorrufen: Bei einem gesunden Kind könnte eine Erbkrankheit vorhergesagt werden, die eigentlich gar nicht vorhanden ist, wodurch es unnötig in Untersuchungen und Behandlungen geschickt würde. Und wie damit umgehen, wenn herauskommt, dass das Kind an einer seltenen genetischen Erkrankung leidet, es aber keine Behandlung dafür gibt?

Sensible Daten

Hinzu kommt, dass die Sequenzierung des gesamten Genoms eines Neugeborenen eine Fülle an Daten erzeugt, die nicht nur das Kind, sondern die gesamte Familie betreffen, sagt Mundlos. Diese sensiblen Daten müssen über das ganze Leben sicher gespeichert werden. Kritiker befürchten bereits, dass diese Daten möglicherweise in die Hände von Versicherungen oder autoritären Regierungen gelangen könnten, wodurch bestimmte Menschen benachteiligt werden könnten.

Laut Gentechnikgesetz in Österreich darf eine Genanalyse am Menschen grundsätzlich nur nach dessen Einwilligung durchgeführt werden. Wenn es etwa um die Genanalyse vor der Geburt geht, müssen Schwangere zuerst eine ausführliche Beratung erhalten, bevor sie dieser zustimmen können. Ein automatisches Genomscreening bei allen Neugeborenen scheint hierzulande noch in weiter Ferne.

Veraltete Interpretationen

Noch ist die Genomsequenzierung aufwendig und teuer, sagt Mundlos. Man müsste die genetischen Daten wohl alle zwei Jahre neu auswerten, um auf neue Erkenntnisse zu stoßen. "Die Interpretation von heute kann morgen schon wieder veraltet sein."

In Zukunft wird die Technologie aber immer einfacher und die Verarbeitung immer schneller, sagt Mundlos. Vielleicht wird es einige Menschen dann tatsächlich vor Erbkrankheiten bewahren. "Aber die Frage, wie weit man in die Selbstentscheidung eines Individuums eingreifen darf, bleibt auch dann noch bestehen." (Jakob Pallinger, 21.6.2022)