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Entwaffnung der sowjetischen Weltkriegsdenkmäler: Im westukrainischen Tscherwonohrad wird als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg eine Skulptur abrissbereit gemacht.

Foto: Reuters

Die russische Aggression gegenüber der Ukraine könnte das schwierige Geschichtsverständnis in Osteuropa nach Jahren der Entspannung wieder verschärfen. Die Politikwissenschafterin Ljiljana Radonić hat 2021 ein Buch zum Thema verfasst: In ihrer Studie Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen (De Gruyter) schreibt sie über eine Geschichtspolitik, die "zwischen der 'Anrufung Europas' und dem Fokus auf 'unser' Leid" hin- und hergerissen ist.

STANDARD: Wodurch unterscheidet sich die Gedenkkultur in postsozialistischen Ländern von jener in Mittel- und Westeuropa?

Radonić: Es geht dort um die Aufarbeitung von zweierlei Vergangenheiten: einerseits die Nazibesatzung und andererseits die ein- bis zweimalige Sowjetbesatzung. Leider wird der Holocaust als bedrohlich für die "eigene" Opfererzählung wahrgenommen, und man will beweisen, dass die Sowjetzeit viel schlimmer war. Die Opfer der eigenen Mehrheitsbevölkerung werden mit Empathie individualisiert dargestellt, die "anderen", die jüdische Bevölkerung zum Beispiel, als anonyme Masse, als Leichenberge.

STANDARD: Hat sich das zuletzt verändert?

Radonić: Ja, zuerst haben einige die EU-Beitritts-Perspektive zum Anlass genommen, die Geschichte des Holocausts, auch die eigene Beteiligung daran, genauer aufzuarbeiten. In den baltischen Ländern wurde zuletzt verbal abgerüstet und die Behauptung vom sowjetischen "Genozid" zurückgeschraubt.

STANDARD: Wird Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die Opferhierarchie nun wieder in Richtung Sowjetzeit verschieben?

Radonić: Das lässt sich noch nicht sagen. Ungarn distanziert sich gar nicht so sehr von Putin, Polen hingegen sehr stark. In beiden Ländern gibt es einen autoritären Backlash und Geschichtsrevisionismus, aber bezüglich Russlands agiert man sehr unterschiedlich.

STANDARD: Wir sehen aktuell, dass in der Ukraine, in Polen und in den baltischen Ländern sowjetische Denkmäler abgerissen werden. Warum ist diese Symbolik so wichtig?

Radonić: Das gab es immer wieder. Erstmals natürlich nach der Wende, wo viele Sowjetdenkmäler weggeräumt oder in Statuenparks versetzt wurden. Jetzt will man ein schnelles Statement setzen. Es ist ein sehr sichtbares Zeichen, stärker als etwa jenes, dass man dieses Jahr auch in Österreich zum Holocaustgedenken keine Vertreter Russlands mehr eingeladen hat.

STANDARD: In Berlin und Dresden gibt es Diskussionen darüber, zumindest sowjetische Panzer von den Denkmälern zu entfernen. Ist eine derartige Demilitarisierung sinnvoll?

Radonić: Es gibt kein pauschales Ja oder Nein in dieser Frage. Man sollte nicht in Aktivismus verfallen, nur um sich besser zu fühlen. Man darf nicht Gefahr laufen, die Rolle der Sowjetunion im Kampf gegen den Nationalsozialismus aus den Augen zu verlieren, da waren Panzer nun einmal entscheidend.

STANDARD: Aber verstellen diese unkritischen Siegesdenkmäler nicht doch den Blick darauf, dass Stalin nicht nur Befreier vom NS, sondern selbst brutaler Aggressor war, nicht zuletzt gegen die eigene Bevölkerung?

Radonić: Ja, aber die stalinistischen Verbrechen rechtfertigen nicht die Entfernung der Siegesdenkmäler per se. Es wäre wichtig, die stalinistischen Massenverbrechen in eigenen Denkmälern zu thematisieren – vielleicht sollte man sie sogar zu den anderen räumlich in Beziehung setzen.

STANDARD: Warum hat die Sowjetunion ihre Denkmalsetzungen überhaupt so exzessiv betrieben? Reine Machtgesten?

Radonić: Klar, Stalin hat viele Machtgesten gesetzt. Schon damals wurde diesbezüglich ein klarer Unterschied zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion deutlich. Die Erhaltung einiger dieser Denkmäler, wie auch jenes in Wien, wurde zudem in Verfassungsrang erhoben. Die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung war ja auch entscheidend. Mit dieser Ambivalenz müssen wir leben.

STANDARD: Wenn postsozialistische Länder ihre Sowjetgeschichte ausradieren, nähren sie damit Putins Narrativ, wonach hier Nationalismus oder gar Nazismus sein Haupt erheben würde?

Radonić: Putins Narrativ ist realitätsfern, er kann sich zu jedem Staat irgendeine noch so an den Haaren herbeigezogene Geschichte als Rechtfertigung für sein Handeln herbeihalluzinieren. Sein Denken kann nicht die entscheidende Frage für die postsozialistischen Länder sein. Natürlich gibt es in dieser Kriegssituation gerade ein Revival der Nationalismen. Das ist verständlich, aber man wird die Entwicklung in Zukunft kritisch beobachten müssen, wenn sich etwa in Polen aktuell Kritikerinnen und Kritiker der rechtskonservativen PiS-Partei nun doch hinter die autoritäre Regierung stellen.

STANDARD: In der Südukraine wurde eine entfernte Lenin-Statue von russischen Soldaten wieder aufgestellt. Obwohl Putin Lenin als Schuldigen bei der "Erfindung" der Ukraine ausgemacht hat. Das ist doch auch widersinnig oder?

Radonić: Da läuft sehr vieles nicht besonders koordiniert ab, wie man ja auch am militärischen Misserfolg sieht.

STANDARD: Wie wird sich Putins Russland geschichtspolitisch verändern?

Radonić: Es kam unter ihm zu einer ambivalenteren, positiveren Sicht auf Stalin. Im Shop des Museums zum Vaterländischen Krieg in Moskau stehen die Figuren von Putin und Stalin nebeneinander. Erfolgreiche Machtpolitiker wie er bedienen sich je nach Bedarf der Geschichte, absichtlich wird da mit einer ambivalenten Beurteilung Stalins gespielt. Und Putin schafft mit Geschichtspolitik gerne Tatsachen: Im Zeithistorischen Museum in Moskau wurde beispielsweise die Krim-Annexion sofort als demokratisch legitimierter Anschluss festgeschrieben. Ich kenne kein vergleichbares Beispiel, wo jemand so schnell in Museen Rechtfertigungen für seine politischen Aktionen aufbietet. (Stefan Weiss, 19.5.2022)