Im Erdgeschoß eine Disco, im Obergeschoß die Separees: zu Besuch bei der illustren Familie Nesterval.

Foto: Alexandra Thompson

Die Früchte sind mit Schimmel überzogen. Was einmal frisch und knackig war, ist längst dabei, zu verwesen. Noch aber tut man an der langen Festtagstafel so, als ob die eigene Glanzzeit noch nicht vorbei sei. Das Männerbordell im ersten Stock ist noch in Betrieb, ein Stricher nach dem anderen entführt die Besucher in die mit Vorhängen abgetrennten Separees.

Sex, Drugs and Budd’n’brooks heißt das neueste immersive Theaterprojekt der Wiener Gruppe Nesterval mit dem Produktionshaus Brut. Nach seiner Premiere in Hamburg inmitten der Pandemie, ist es bis Ende des Monats in einem raffiniert und äußerst liebevoll ausstaffierten ehemaligen Etablissement im Wiener Wurstelprater zu sehen.

Von den anzüglichen Sprüchen auf den Toiletten bis hin zu einem in die Räumlichkeiten gebauten Autodrom hat Setdesignerin Andrea Konrad aus einer heruntergekommenen Immobilie eine wunderbar in die Jahre gekommene Prater-Disco gezaubert. Hier, zwischen Geister- und Achterbahn, residiert die Familie Nesterval, deren Kinder nicht mehr auf die schiefe Bahn geraten können, weil sie schon dort geboren wurden.

Strizzis und Stricher

War es bei den Buddenbrocks noch der Abstieg einer Lübecker Kaufmannsfamilie, die Thomas Mann nachzeichnete, so ist es an der Adresse Prater 34 eine Familie aus Strizzis und Strichern, deren Untergang Regisseur Martin Finnland in einem dreistündigen Theaterparcours inspiriert von der hanseatischen Vorlage nachzeichnet.

Wobei es genau genommen die Besucherinnen sind, die sich die langsame Auflösung der Familie aus unterschiedlichen Szenen zusammenreimen müssen. Von der Festtagstafel, an der die Familie eher hängt als sitzt und an der Jahreswechsel oder Hochzeiten gefeiert werden, geht es in Grüppchen in die Nebenräumlichkeiten, in denen Beziehungen angebahnt oder nächtliche Abenteuer besprochen werden.

Zwischendurch scheucht einen das illustre Personal hinaus in den Prater, wo man sich plötzlich bei einer Schwulendemo oder als Popcornverkäufer wiederfindet. Die Zeitebenen wechseln dabei genauso schnell wie die einzelnen Lebensstationen, was genauso vergnüglich wie produktiv ist: Mithilfe des zu Anfang gereichten Stammbaums (oder anderer Besucher) werden chronologische Lücken gefüllt oder Zusammenhänge geklärt.

Statt der einen Geschichte entstehen so gleich deren mehrere. Um sie zu synchronisieren, dafür reicht ein einmaliger Besuch bei der ehrenwerten Familie Nesterval nicht aus.
(Stephan Hilpold, 19.5.2022)