Um auf die Vermüllung aufmerksam zu machen, steigen Influencer, wie hier der Franzose Alexis Dessard in Bolivien, auch selbst in den Dreck.

Foto: REUTERS/Claudia Morales

Bei sozialen Medien wie dem Videoportal Tiktok denken viele wohl zuerst an Katzenvideos, kurze Tanzeinlagen oder Videos von Menschen, die ihre im Glas gefangenen Fürze anpreisen. Doch Tiktok, Instagram und Co können mehr, davon ist Carissa Cabrera überzeugt. Sie hat vor der Kamera in ihrem Zimmer Platz genommen, von wo aus sie gewöhnlich ihre 170.000 Follower begrüßt. "Über Tiktok können wir Millionen Menschen überall auf der Welt mit grünen Botschaften erreichen, gerade in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird", sagt Cabrera im Gespräch mit dem STANDARD.

Um diese Aufmerksamkeitsspanne zu bedienen, sind die Videos der 28-Jährigen meist nicht länger als 20 bis 30 Sekunden. Darin nimmt die Meeresbiologin ihre Zuseher mit auf einen Tauchgang vor der Küste ihres Wohnorts auf Hawaii, auf einen Bootsausflug, einen Strandspaziergang oder in ihr Wohnzimmer, wo sie Bambuszahnbürsten, Hautcremes und andere Produkte vorstellt. In möglichst kurzer Zeit und auf leicht verständliche Art wolle sie Menschen die Bedeutung von Haien, Algen oder Korallen näherbringen, sagt Cabrera.

Authentisch sein

"Sinnfluencer" sagen einige zu Influencern wie Carissa Cabrera. Dahinter steckt der Wunsch, auf sozialen Medien nicht nur Markenbotschafter zu sein, Selfies zu posten oder gephotoshoppte Bilder zu zeigen, sondern sich authentisch zu präsentieren und "sinnvolle" Inhalte zu vermitteln. Sinnfluencer machen zwar ebenfalls bezahlte oder unbezahlte Werbung für Produkte, sehen Massenkonsum und Kapitalismus aber oft kritisch. Sie wollen ihre jungen Zuseherinnen vor allem bilden und dafür möglichst viel Aufmerksamkeit generieren.

Das Thema ihrer Beiträge sind fast immer die Klimakrise und die Umweltzerstörung. Dafür drehen sie Videos über Klimakonferenzen, Umweltveränderungen, Recycling oder nachhaltige Seifen, T-Shirts und Lebensmittel. Das Ziel: jungen Menschen die Angst vor der Klimakrise zu nehmen, sie zum Handeln zu motivieren und ihren Status und Einfluss zu nutzen, um die Welt zu verbessern. Doch einige Wissenschafter fürchten, dass Sinnfluencer auch Falschnachrichten verbreiten könnten. Wie viel Hoffnung für mehr Klimaschutz ist angesichts des neuen Trends gerechtfertigt?

Junges Publikum

Dass die Inhalte der Sinn- beziehungsweise Klimainfluencer boomen, zeigt sich in den Aufrufen. Allein auf Tiktok bringen es Videos unter den Hashtags "climate change" und "sustainable" auf jeweils rund zwei Milliarden Aufrufe. Es sind vor allem junge Menschen unter 30 Jahren, die die App nutzen und sich die Videos ansehen.

"Viele junge Menschen haben große Angst vor der Klimakrise", sagt Cabrera. Verantwortlich dafür seien die besorgniserregenden Bilder und Videos zu Umweltkatastrophen und anderen Auswirkungen des Klimawandels, mit denen wir täglich in den Nachrichten und auf sozialen Medien konfrontiert werden. "Leider ist es so, dass sich negative Inhalte in den Medien schneller verbreiten." Zwar gebe es tatsächlich viele Entwicklungen, die besorgniserregend sind. Doch immer wieder von Katastrophen zu hören, kann auch lähmen, frustrieren und überfordern, sagt Cabrera.

Die Meeresbiologin Carissa Cabrera will jungen Menschen auf Tiktok Lösungen für die Klima- und Umweltkrise zeigen.
Foto: privat

Klimaangst verbreitet

Tatsächlich stoßen Wissenschafter seit Jahren auf das Phänomen der sogenannten Klimaangst. Erst kürzlich kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass drei Viertel aller 16- bis 25-Jährigen die Zukunft als beängstigend sehen. Die Forschenden befragten dafür 10.000 Personen in den USA, Großbritannien, Frankreich, Finnland, Australien, Brasilien, Portugal, Indien, den Philippinen und Nigeria zu ihrer Einstellung zum Klimawandel. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass sie glaubt, die Menschheit sei dem Untergang geweiht. Für ebenfalls mehr als die Hälfte habe die Angst vor dem Klimawandel einen negativen Einfluss auf ihren Alltag. Rund sechs von zehn Befragten haben das Gefühl, von Regierungen beim Klimaschutz im Stich gelassen zu werden.

Das sei der Grund, weshalb sie in ihren Videos nicht nur von Katastrophen, sondern auch von Lösungen berichten will, sagt Cabrera. "Zu wissen, dass es Millionen Menschen gibt, die bereits an Lösungen für die Klimakrise arbeiten, kann sehr beeindruckend für einen 15-Jährigen sein." Positive Veränderungen würden jungen Menschen neue Hoffnung geben.

Netzwerk an Influencern

Seit zwei Jahren ist Cabrera Teil von Ecotok, einem Netzwerk namhafter Influencer, Wissenschafter, Studenten, Aktivistinnen und Umweltpädagogen, das es mittlerweile auf 110.000 Follower und zwei Millionen Likes auf Tiktok bringt. Das Kollektiv hat bereits mit TED Countdown, einer Initiative, bei der Lösungen für die Klimakrise vorgestellt werden, sowie mit Gates Ventures, einer Risikokapitalfirma von Bill Gates, zusammengearbeitet.

Die Videos der Plattform sind ähnlich denen, die man von Tiktok gewöhnt ist: kurz, aufgepeppt mit speziellen Sounds und Musik und mit bunten Schrifteinblendungen. Doch anders als bei anderen Tiktok-Videos geht es weder um Katzen oder Tänze, sondern um das Einsammeln von Plastikmüll, erneuerbare Energien, Umweltrassismus oder vegane Ernährung. Meist sind es ebenfalls junge Menschen, die direkt zu den Zusehern über ihre Gedanken zum Klima- oder Umweltschutz sprechen.

Großer Einfluss

Aber lassen sich komplexe Informationen zur Klimakrise oder zum Artensterben tatsächlich auf wenige Sekunden herunterbrechen? "Das ist oft herausfordernd", gibt Cabrera zu. Sie versuche, zuerst die Aufmerksamkeit auf Tiktok zu bekommen, um Menschen später beispielsweise in einem Newsletter genauere Informationen zu Umweltthemen zu liefern. Trotzdem könne man junge Menschen auch mit kurzen Videos bewegen, glaubt sie.

Auch Nils Borchers, Kommunikationswissenschafter an der Universität Tübingen, glaubt, dass Sinnfluencer einen starken Einfluss auf junge Menschen haben können. "Viele Influencer wirken sehr authentisch. Ihre Follower haben den Eindruck, sie schon seit Jahren zu kennen. Sie möchten ihnen nacheifern, weil sie ähnliche Werte vertreten", sagt Borchers im STANDARD-Gespräch. Influencer seien oft Vorbild oder Idol. Wenn sie sich für eine Sache einsetzen, mache das einen Eindruck auf ihre Follower.

Risiko durch Fake News

Studien hätten etwa gezeigt, dass Influencer Einfluss auf die Konsumentscheidungen ihrer Follower haben. Derselbe Effekt könne aber auch beim Klima- oder Umweltschutz entstehen und durchaus nachhaltige Auswirkungen haben, so der Experte. Den Trend der Sinnfluencer betrachtet Borchers jedenfalls als positiv. "Es ist gut, dass sich Influencer zunehmend Gedanken darüber machen, welche Verantwortung sie mit ihren Beiträgen in der Öffentlichkeit haben."

Trotzdem gebe es auch das Risiko, dass Sinnfluencer Falschnachrichten über den Klimawandel auf sozialen Medien verbreiten. Denn Influencer seien oftmals sehr jung und wenig erfahren, zudem fehle es meist an klassischen Qualitätssicherungsmechanismen, um den Wahrheitsgehalt der verbreiteten Beiträge sicherzustellen, sagt Borchers.

Austausch in Netzwerk

Laut Cabrera werden viele Videos vor der Veröffentlichung in der Gruppe von Ecotok geteilt und besprochen. Dort gebe es Menschen mit unterschiedlichen, oftmals wissenschaftlichen Ausbildungen, die den Inhalt auf seine Richtigkeit überprüfen können. Bei vielen anderen Influencern fehlen solche Kontrollmechanismen allerdings. Der Grund, warum immer wieder Falschnachrichten verbreitet werden, sei auch, dass überspitzte Meldungen zur Klimakatastrophe oft mehr Aufmerksamkeit generieren.

Zudem gebe es immer noch Menschen, die nicht an den Klimawandel glauben, sagt Cabrera. Auch diese Leute produzieren Videos auf Tiktok. Umso mehr müsse man mit wahrheitsgetreuen Beiträgen gegensteuern, die auch Hoffnung geben, sagt sie. Sie ist überzeugt: "Wir können die Klimakrise lösen, wenn wir zusammenarbeiten." (Jakob Pallinger, 31.5.2022)