Landwirtschaftliches Gerät wie hier in Saporischschja wurde den ukrainischen Landwirten schon öfter von den russischen Truppen gestohlen.

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Die Hauptanbaugebiete im Überblick.

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Vasil Burlaka, Leiter der Bauernvereinigung für den Oblast Poltawa, begrüßt mit Handkuss und ordnet an, seinem schwarzen Škoda Octavia zu folgen. Der großgewachsene, korpulente 64-Jährige, der für den Anlass eigens einen blauen Anzug trägt und seine eigene Lokalreporterin mitgebracht hat, setzt sich ins Auto und braust davon. Die Fahrt geht über spärlich befahrene Landstraßen, neben denen sich sattgelbe Rapsfelder ausbreiten. Doch die landschaftliche Idylle wird immer wieder von Schützengräben, Kontrollpunkten und Schildern, die auf Minen hinweisen, unterbrochen.

Nach 40 Autominuten ist das Ziel erreicht. Hier, am Rande des 900-Einwohner-Dorfs Baljasne, steht ein Bauernhaus mit Solaranlage, Bienenstöcken und Kettenhund. Am Eingangstor winken die Eheleute Oleksandr und Irina Hawrilenko und bitten herzlich in das Haus herein. Erst das Essen, dann das Interview.

"Niemand wollte Krieg"

"Wir haben alles selbst gemacht, mit Zutaten aus der Region", sagt Irina Hawrilenko und stellt Schüsseln mit Warenyky (gefüllten Teigtaschen), gegrilltem Huhn, Borschtsch und Salat auf den Tisch. "Poltawa ist ein friedlicher Ort. Niemand hier wollte einen Krieg", fügt sie an, während Burlaka mit polternder Stimme erzählt, dass die Bauernvereinigung 2480 Mitglieder hat, von denen wiederum mehr als 90 Prozent Mais, Weizen, Raps und Gemüse anbauen.

Er selbst leitet gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn drei Bauernhöfe in der Gegend; einer trägt den Namen "Glückliches Schicksal". Mit seinem Bauernverein habe er zuletzt vier Lastwagen Getreidesaat in den Oblast Sumy gefahren, der im Norden an Russland grenzt, um die dortigen Landwirte zu unterstützen.

"Wir werden hier in der Ukraine genug Lebensmittel und Vorräte haben, um mindestens zwei Jahre auszukommen", sagt Burlaka. Doch andere Länder der Welt spüren bereits jetzt die Auswirkungen der aufgrund der Kämpfe geschlossenen Exporthäfen, allen voran Odessa (siehe Seite 3). Knapp 25 Millionen Tonnen Getreide stecken laut der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) derzeit in der Ukraine fest. Und vor kurzem gab der ukrainische Landwirtschaftsminister Mykola Solsky bekannt, dass die Qualität der kommenden Ernten aufgrund des Krieges deutlich schlechter ausfallen werde.

Angst vor Sabotageakten

Während Landwirte wie das Ehepaar Hawrilenko versuchen, den landesweit und insbesondere im Osten immer knapper werdenden Treibstoff zu lagern, um die Ernte und den Transport des Getreides im Herbst zu sichern, wächst die Angst vor russischen Sabotageakten. "Wir sehen und hören die Geschichten über gestohlene Maschinen und über das Getreide, das später irgendwo in Russland wieder auftaucht", so Oleksandr Hawrilenko.

Laut dem ukrainischen Landwirtschaftsministerium haben russische Truppen seit Kriegsbeginn bereits 400 bis 500 Tonnen Getreide aus dem Süden des Landes auf die Krim geschafft. "Alle Schiffe, die Sewastopol (auf der Krim, Anm.) verlassen, sind mit gestohlenem ukrainischem Getreide beladen", erklärte Minister Solsky.

Die ukrainische Staatsanwaltschaft habe bereits ein Strafverfahren eingeleitet. "Seit den ersten Tagen des Krieges stehlen sie unser Getreide, zerstören unseren Boden und verminen unsere Felder", klagt Oleksandr Hawrilenko. "Es schmerzt. In der Ukraine kennen wir alle die Geschichten über die Generation unserer Großeltern und die von Stalin herbeigeführte Hungersnot 1932/33. Natürlich haben wir Angst, dass die Russen mit Waldbränden und Chemieattacken dafür sorgen, dass wir unsere Ernte verlieren."

Im Vergleich zum angrenzenden Oblast Charkiw halten sich die Kriegsschäden in Poltawa bisher in Grenzen. Trotzdem gehört der Krieg auch hier zum Alltag. Mehr als 150.000 Binnenvertriebene sind hierher, in die Zentralukraine, geflüchtet. Viele der Landwirte sind selbst in den Krieg gezogen.

Molotowcocktails mischen

Der 24. Februar sei der erste Tag gewesen, an dem das Wetter die Arbeit auf den Feldern wieder zuließ, so Landwirt Hawrilenko. Doch statt die Felder zu bestellen, sei er dann vor allem damit beschäftigt gewesen, Molotowcocktails zu mixen. "Wir haben spontan begonnen, mit unseren Jagdwaffen in der Gegend zu patrouillieren und unsere eigenen Checkpoints zu errichten. So groß war unsere Angst, dass die Russen von Norden her bis zu uns kommen würden."

Zum Glück, so Hawrilenko, waren die Ankommenden bis heute vor allem Familien mit Kindern und Haustieren, die kein Dach mehr über dem Kopf haben. (REPORTAGE: Daniela Prugger aus Poltawa, 19.5.2022)