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Mit elf Quadratkilometern Fläche ist das Asow-Stahlwerk eines der größten in Europa. Der Kampf wird erbittert geführt.

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"Sie werden keine Menschen wie alle anderen mehr sein." Natalia Zarytska über die Kämpfer im Asow-Stahlwerk. Ihr Mann Bohdan Zarytsky ist einer von ihnen.

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Sehr lange Tage und Nächte sind das derzeit für Natalia Zarytska im Haus ihrer Eltern bei Kiew; das Telefon immer in der Nähe. Am 7. Mai hat sich ihr Mann zum bisher letzten Mal gemeldet. Eine knappe Nachricht. Keine sonderlich aufbauende: "Das war’s", schrieb er. Seither: Stille.

Der, auf dessen Nachricht sie da wartet, heißt Bohdan Zarytsky. Er ist einer jener ukrainischen Kämpfer, die bis zuletzt im Asow-Stahlwerk in Mariupol Widerstand leisten. Laut russischen Angaben wurden am Mittwoch 959 von ihnen gefangen genommen. Russische Medien lassen es so klingen, als sei damit das Werk komplett eingenommen – laut ukrainischen Quellen sind die, die jetzt aus dem Werk gebracht wurden, aber Polizisten sowie Grenzschützer.

Über 1.000 Soldaten sollen sich aber noch verschanzen – überwiegend Kämpfer des dem Innenministerium unterstehenden Asow-Regiments. Bohdan Zarytsky ist einer von ihnen. Wo er sich derzeit befindet, weiß Natalia Zarytska nicht.

Lange Funkpausen

Stille hat es auch zuvor schon gegeben, erzählt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Aber nicht eine solche. Zehn Tage dauerte die bisher längste Funkpause. "Wir schreiben einander jeden Tag", sagt sie. Das sei so eine Tradition. "Und wenn es dann Internet gibt, kommen alle Nachrichten auf einmal durch."

Um dorthin zu gelangen, wo es Internet gibt im Stahlwerk, muss man großes Risiko eingehen. "Ich habe ihm immer gesagt, er soll lieber auf sich aufpassen und kein Risiko eingehen", sagt Natalia Zarytska – und macht eine Pause. Und auch Nachrichten wie die bisher letzte gab es. Dann sagt sie: "Ich bin stark, ich kann warten."

Glaube an Lösung

Vor wenigen Wochen noch hatte sie den Krieg vor der Haustüre: Bombardements, Granaten, russische Panzer in der Nähe. Jetzt tost der Krieg umso lauter, je länger das Telefon still ist. "Ich weiß nicht mehr, als in den offiziellen Meldungen zu erfahren ist", sagt sie. Aber sie glaube an eine Lösung, auch wenn in Russland derzeit laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe für Asow-Kämpfer nachgedacht wird.

Mariupol war vom ersten Tag des eskalierten russisch-ukrainischen Krieges an umkämpft. Schon vor dem jetzigen russischen Einmarsch war die Stadt direkt an der seit 2014 existierenden innerukrainischen Front gelegen. Wenn zwischen den Milizen der von Russland unterstützten Region DNR und ukrainischen Sicherheitskräften geschossen wurde, so hörte man das in Mariupol. Einschläge zum Abendessen, das war wie ein Wetterphänomen.

100.000 Verbleibende

Im Mai 2014 versuchten prorussische Kräfte, die Stadt im Handstreich zu nehmen – und scheiterten. Mariupol wurde zu einer Festung. Und zugleich war die Stadt ein wirtschaftlicher wie humanitärer Hub für die Region.

Nach fast drei Monaten Krieg sind nur noch Trümmer davon übrig. Knapp 450.000 Einwohner hatte Mariupol. Heute leben dort laut ukrainischen Angaben noch etwas mehr als 100.000 Menschen. Viele sind geflohen, viele wurden in "Filtrationslagern" interniert – die jetzt evakuierten Soldaten werden in solche Lager gebracht.

Wie viele Menschen im Zuge der Kämpfe getötet wurden, ist nicht bekannt. Zehntausende sollen es sein. Oder auch noch mehr. Eine Zahl in dieser Größenordnung lassen Massengräber im Umland erahnen, die auf Satellitenaufnahmen zu sehen sind. Allein im Theater der Stadt, in dem sich Zivilisten versteckt hatten und das von Russlands Armee bombardiert wurde, starben laut ukrainischen Angaben mindestens 300 Menschen.

Geist im Dorf der Kindheit

Die Stadt ist gefallen – aber wie es um das Stahlwerk steht, ist nicht klar. Zumindest die Verwundeten sind anscheinend raus. Als "katastrophal" habe ihr Mann die Lage beschrieben, erzählt Natalia Zarytska. Er habe gesagt, er halte es kaum aus, in die Keller zu gehen: So viele Menschen mit abgerissenen Gliedmaßen.

Dass er da lebend herauskomme, glaube ihr Mann nicht mehr, erzählt Natalia Zarytska. Sehr lange und ausführlich habe er darüber geschrieben, dass sein Geist ins Dorf seiner Kindheit wandern werde. Dass sie ihn dort werde treffen können. Er habe geschrieben, dass er nicht mehr leben wolle unter diesen Umständen; dass es besser sei, getötet zu werden, als mit abgerissenen Gliedmaßen und absterbendem Fleisch am Körper in einem Bunker zu verrotten. Er habe, so erzählt sie, keine Hoffnung auf Rettung.

Der 14. Februar war es, an dem Natalia Zarytska ihren Mann zum letzten Mal gesehen hat. Da war die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Nach Mariupol war sie gefahren, für ein Wochenende. Spazierengehen am Meer, dann aber doch auch der Geruch einer bevorstehenden Eskalation in der Luft. Aber Artilleriebeschuss, Keller, die Fragen des Sohnes: All das war noch nicht einmal eine erahnte Möglichkeit.

Nicht mehr dieselben

"Sie werden keine Menschen wie alle anderen mehr sein", sagt Natalia Zarytska. Schwer sei es, sich vorzustellen, zwei Monate unter Blockade und unter Beschuss zu sein, Kameraden sterben zu sehen. Ob es den einen Bohdan Zarytsky noch gebe, mit dem sie Mitte Februar noch das Wochenende verbracht habe, das wisse sie nicht. Aber auch sie ist nicht mehr dieselbe: Dazwischen liegen Wochen im Keller, Artilleriebeschuss, russische Panzer in der Nähe, Berichte über systematische Vergewaltigung.

Ihr Sohn frage sie immer noch jeden Tag, ob denn die Okkupanten jederzeit die Tür eintreten könnten, um sie alle zu töten. Und die einzige ehrliche Antwort, die sie darauf habe sei: "Ja." (Stefan Schocher, 19.5.2022)