Praktisch in allen 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union laufen intensive Debatten darüber, wie Europa sich gegen einen militärischen Angriff aus Russland wehren könnte. Die Menschen spüren, dass auf diesem Kontinent seit dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine in Sachen Sicherheit nichts mehr so ist und für längere Zeit sein wird, wie es war.

Österreich hält bisher am Nein zu einem Nato-Beitritt fest.
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Frieden, Freiheit, auch Wohlstand und Demokratie scheinen plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Wladimir Putins Eroberungskrieg bedroht, was nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 für fast eine halbe Milliarde Menschen mühsam geschaffen wurde.

Kein Wunder also, wenn Debatten über militärische Hilfen für die Ukraine und auch über die eigene Wehrhaftigkeit zum Teil echt schmerzhaft ablaufen. Die Politik, die Parteien, die Regierungen sind schwer gefordert, den Bürgern Lösungen und Antworten zu liefern.

Frankreich, alte Kriegsnation, drängt vehement darauf, dass die EU mit der Nato kompatibel eine starke, souveräne Militärunion aufbaut. In Deutschland war man lange hin- und hergerissen. Inzwischen ist die Regierung zur umfassenden Militärhilfe für die Ukraine bereit, will riesige Summen für die Bundeswehr bzw. deren Beitrag in einer hybriden "Euroarmee" aufwenden.

Weitreichende Entscheidungen

Die Osteuropäer mit ihrer traditionellen Skepsis Russland bzw. der Sowjetunion gegenüber sind sehr engagiert und für "Nato first". Am beeindruckendsten jedoch ist es, wie seriös und konsequent die Sicherheitsdebatte in Schweden und Finnland geführt wird, über Jahrzehnte Leuchttürme von Neutralität und Bündnisfreiheit. Ergebnis: Alte Zöpfe werden abgeschnitten. Von den Bürgern getragen, beschlossen die Parlamente in Helsinki und Stockholm mit riesiger Mehrheit die Ansuchen auf einen Nato-Beitritt.

Das Auffällige überall: wie substanziell die Diskussionen zwischen Bürgerinnen, Politikern und Parteien ablaufen. Das ist auch die Grundvoraussetzung bei staatspolitisch weitreichenden Entscheidungen: Es braucht Konsens über die Parteigrenzen hinweg. Schaut man diesbezüglich nach Österreich, ist es geradezu schockierend, mit welcher Oberflächlichkeit und Ignoranz sich Regierung und Opposition mit einer der wichtigsten Fragen unserer Zeit auseinandersetzen. Anders als in Zeiten des EU-Beitritts in den 1990er-Jahren herrscht zwischen den Parteien im Parlament tiefstes Misstrauen. Man kann sich nicht vorstellen, wie diese fünf Parteien in Sachen Sicherheit jemals einen Konsens finden könnten.

Auch in der Substanz ist wenig da. Wenn es darum geht zu erwägen, wie man seine eigene Bevölkerung am besten schützen könnte, was genau der Staat militärisch aufwenden muss, wie ein neutrales Land mit der EU und Partnern agieren könnte, herrscht Leere. Vom ÖVP-Bundeskanzler abwärts wird die Neutralitätskeule geschwungen: "Wir waren neutral, sind neutral und bleiben neutral!" Punkt. SPÖ ("aktive Neutralität") und FPÖ stimmen da freudig mit ein. Grüne und Neos setzen auf das Luftschloss von der "europäischen Armee" ohne Nato. Dass das Bundesheer nackt ist, auf die Teilnahme an einer europäischen Sicherheitsordnung, die von EU und Nato gestaltet wird, nicht vorbereitet ist, darüber will niemand reden. Dabei ginge es gar nicht darum, jetzt zu entscheiden, ob man den schwedisch-finnischen Weg geht oder nicht. Aber die Menschen haben ein Recht darauf, dass das offen und konkret debattiert wird. (Thomas Mayer, 19.5.2022)