Der Historiker und Medienarchivar Rainer Hubert gibt im Gastblog Einblick in eine Tonaufnahme von Engelbert Dollfuß.

Vor achtundachtzig Jahren dreht jemand, den wir nicht kennen, abends das Radio auf - und es ist Bürgerkrieg – im Radio und überall. In Wien, in Linz, an vielen Orten im ganzen Land wird gekämpft. 14. Februar 1934, elf Uhr abends.
Nach Monaten äußerster politischer Spannung zwischen zwei materiell und emotionell hochgerüsteten Lagern, war die Explosion erfolgt. Bürgerkrieg in Österreich. Der Bundeskanzler, der seit März des Vorjahres ohne Parlament, nur auf das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz gestützt, regiert hat, spricht also im Radio. Gibt eine Erklärung des Geschehens aus seiner Sicht, berichtet von zwei standrechtlichen Hinrichtungen und fordert die Sozialdemokratie zur Kapitulation auf.

Wozu die Erinnerung an diesen Zeitpunkt im Jahr 1934? Kein erkennbares Jubiläum, kein Anlass, aber bedarf es immer des "Aufhängers"? Warum nicht im Fundus des Vergangenen etwas "ausgraben" oder "aktualisieren", das heute noch betroffen und nachdenklich macht?

Medienarchivarische Ausgrabungen

Die "Ausgrabung" ist eine Tonaufnahme, die seit Jahrzehnten im Archiv der Österreichischen Mediathek ruht. Bei ihrer Wiedergabe hört man aus dem Lautsprecher Bundeskanzler Engelbert Dollfuß sprechen, hört ihn von Kämpfen und vom Standrecht sprechen, hört, wie andere Sender seine Worte zeitweise überlagern. Die Regie des Zufalls unterlegt den Appell des Kanzlers mit Unterhaltungsmusik. Kein Spielfilm- oder Hörspiel-Fake, sondern der Originalton.

Bei einer solchen Aufnahme im Archiv des österreichischen Nationalarchivs für audiovisuelle Medien, der Österreichischen Mediathek, kann man tun, was sonst meist nicht geht: der Sache auf den Grund gehen, die Quelle untersuchen und eine rationale Analyse durchführen. Das mag erleichtern in Zeiten des kontinuierlichen Fake-Verdachts. Überfüttert durch audiovisuelle Berichte verschiedenster Art und Herkunft, müssen wir vieles zum Nennwert nehmen oder vage vermuten, dass hier etwas oder alles nicht stimmen kann. Wir haben nicht Zeit und Möglichkeit, die Fülle der Medien, die auf uns einströmen, zu überprüfen und sind zu interpretatorischer Improvisation gezwungen. Bei dieser Dollfuß-Tonaufnahme ist es – ein wenig – anders.

Dollfuß beginnt, von den "schwarzen Faschingstagen" und den "verbrecherischen Anstiftern" zu sprechen. Das "verbrecherische Unternehmen" sei von Linz ausgegangen. Die gezielte Waffensuche beim Schutzbund nennt er einen "polizeilichen Kontrollgang", bei dem die Polizei beschossen worden sei. Darauf folgte Generalstreik, der aber ein Misserfolg gewesen sei und die Versorgung der Bevölkerung nicht beeinträchtigt habe. Die "bewaffneten Gewaltmaßnahmen" gegen die staatliche Exekutive forderten "Blutopfer und Menschenleben"; daher Standrecht und bereits zwei Hinrichtungen. Dollfuß wendet sich an die "Irregeleiteten und Verhetzten" und meint, sie müssten doch "um Gottes Willen endlich einsehen, dieser Blutopfer, dieser Vernichtung von Existenzen ist nun genug". Er appelliert an die "Irregeleiteten und Verhetzten" zu verstehen, dass sie nun ohne Anführer seien, weiterer Widerstand gegen die "ungebrochene Staatsmacht" sei doch "Irrsinn". "Die Regierung will Euch noch einmal Gelegenheit zur Umkehr geben." Wer sich von jetzt an nicht mehr am Kampf beteiligt und wer morgen von sieben bis zwölf sich den Behörden stelle, könne "auf Pardon rechnen", wovon freilich die "verantwortlichen Führer" ausgenommen seien. Dieser Appell wird von ihm noch einmal wiederholt – und währenddessen hört man die erwähnten Sendereinstreuungen. Es folgt noch ein "Appell an die Frauen", sie mögen auf ihre "verhetzten" Männer, Söhne und Brüder einwirken.

Eine massive Ansage, die den Wunsch nahelegt, auch die Sicht eines führenden Sozialdemokraten unmittelbar aus der Situation heraus zu hören. Doch ein solches Dokument gibt es aus naheliegenden Gründen nicht.

Dieser kurze Abriss von Dollfuß ebenfalls kurzer Erklärung – rund sieben Minuten lang – gibt nur einen geringen Teil des Inhaltes wieder. Selbst das Lesen eines Transkripts ließe noch sehr viel an Information vermissen. Die Stärke des Dokuments liegt in genau dem, was nicht schriftlich mitgeteilt werden kann: Im Klang der Aufnahme, in der Erregung in der Stimme, im akustischen Ambiente des frühen Radio-Hörens und im unmittelbaren sinnlichen Bezug zur Situation durch Hören des Originaltons.

Bitte hineinhören!

Zum Nachhören: Rundfunkansprache von Bundeskanzler Dollfuß zum Februar 1934

Ist mit dem Anhören, schon alles klar? Ein gewiss beeindruckendes Dokument, aber spricht es für sich selbst? Wie es beurteilen, ohne mehr zu wissen über die Umstände seiner Entstehung und vor allem den Zeithorizont? Sonst bleibt das Erleben der Tonaufnahme ein Torso, bleibt das Anhören stecken im Emotionalen, ja kann sogar in die Irre führen.
Das festzuhalten, ist besonders wichtig, weil das Internet, unser neues mediales Universum, zahlreiche "historische Töne" beinhaltet, die unvermittelt, ohne Kontext – oder mit einem irreführenden – vorliegen. Daher ist den Benützerinnen und Benützern selbst die Aufgabe der Quellenkritik aufgegeben, die freilich oft nicht geleistet werden kann. Denn dies kann eine recht komplexe Angelegenheit sein, wie am Beispiel der Dollfuß-Aufnahme gezeigt werden soll.

Engelbert Dollfuß
Foto: imago stock&people

Es fängt schon mit der Charakterisierung des zeitlich-politischen Szenario des Jahres 1934 an, die selbst unter Fachleuten sehr unterschiedlich ausfallen kann. Der Terminus "Bürgerkrieg" mag dabei noch verhältnismäßig unumstritten sein: seit langem stehen sich zwei Lager im Lande gegenüber, die "Bürgerlichen" und die "Sozialisten", die um die Hoheit in Staat und Ländern ringen und jeweils bewaffnete Freiwilligenkorps aufmarschieren lassen. Aufmärsche und Zusammenstöße, so geht es in Österreich nun schon seit vielen Jahren. Der eigentliche Bruch bereitet sich 1933 vor, als die christlich-soziale Regierung des neuen jungen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß eine parlamentarische Abstimmungspanne – die sogenannte "Selbstausschaltung des Parlaments" am 4. März 1933 – benützt, nun ohne Parlament, gestützt auf Notverordnungen, zu regieren.

Der Weg in die Diktatur hat begonnen, wobei die Situation noch dadurch kompliziert wird, dass die Regierung nicht nur versucht, die Sozialdemokratie ganz auszuschalten, sondern auch mit innerem und äußerem Druck der Nationalsozialisten konfrontiert ist. In Deutschland hat Ende Jänner Hitler die Macht ergriffen. In Österreich gehen jetzt immer wieder Bomben hoch, die Nationalsozialisten gezündet haben. Inzwischen entwirft Dollfuß einen Staat neuen Typs – "autoritärer Ständestaat", Austrofaschismus - und eine Einheitspartei, die "Vaterländische Front". Der Druck auf die Sozialdemokratie und ihre Verbände steigt. In Linz weigert sich am 12. Februar 1934 in der Früh der sozialdemokratische Schutzbund, sich entwaffnen zu lassen – und dies löst den offenen Bürgerkrieg aus, der vor allem in Wien und den Industriegebieten Österreichs erbittert geführt wird. Exekutive und Wehrverbände drängen in Folge mit überlegenen Kräften den Schutzbund rasch zurück. Dies ist die Situation, aus der heraus Dollfuß am Abend des Aschermittwoch 1934 spricht.

Was hören wir eigentlich?

Wenn wir also diese Tonaufnahme anhören – was hören wir dann eigentlich? Die Rede, wie sie ins Mikrophon gesprochen wurde? Das ist bei den meisten historischen Reden von Politikern der Fall, hier aber nicht. Daher der obige Verweis auf die anderen Sender, die den Dollfuß-Ton überlagern: die Aufnahme wurde nicht von der Rundfunkanstalt, sondern während der Ausstrahlung wohl von einem Privatmann – vermutlich war es ein Mann, aber das ist nur eine Annahme - mitgeschnitten. Solches Mitschneiden war damals noch recht kompliziert und erforderte ein wenig "Bastlerfähigkeit". Vielleicht arbeitete das Aufnahmegerät mit den sogenannten "Selbstschnittfolien", also biegsamen plastikartigen Platten, in die eine Schneidnadel die Toninformation einkratzte. Wir können hier nur Vermutungen anstellen, weil der Originalmitschnitt nicht mehr vorliegt. Von dieser hat jemand, den wir auch nicht kennen - vielleicht sogar der ursprünglich Aufnehmende - eine Kopierung auf Tonband vorgenommen.

Das muss freilich – nach der Bandtype zu schließen – schon viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt sein. Diese Ungewissheit ergibt sich daraus, dass diese Bandkopie als Teil einer geheimnisvollen "Sammlung Gustav" in den sechziger Jahren in die damalige Österreichische Phonothek – heute die Österreichische Mediathek – gebracht wurde. Heute würde eine solche Übernahme selbstverständlich genau dokumentiert werden: Wer hat was wann und unter welchen Bedingungen übergeben. Damals liefen solche Sachen noch deutlich lockerer – und so wissen wir nichts von der Herkunft der "Sammlung Gustav", zu der auch zahlreiche Hitlerreden und Aufnahmen von NS-"Prominenz" gehören. Ein Hinweis aus der Leserschaft über diesen Bestand wäre sehr erwünscht, aber leider bereits recht unwahrscheinlich!

Von Dollfuß sind einige Reden erhalten, die der Sender selbst aufgezeichnet hat, diese aber nicht. Das könnte der Hektik der Situation zuzuschreiben sein. Die Folge ist jedenfalls, dass diese Erklärung nur als Teil der "Sammlung Gustav" in der Österreichischen Mediathek überliefert wurde.

Die Geschichte dieser Tonaufzeichnung wird nun zu einer solchen ihrer Verwendung: wenn ein spannender "O-Ton" in einem Archiv "auftaucht", das heißt via Katalog zugänglich wird, so wird sie in Folge für Radiosendungen, Ausstellungen, für journalistische und wissenschaftliche Verwendung angefordert – und eingesetzt. Immer wieder kommt es vor, dass in Folge ein solches Dokument ohne Absprache mit dem Archiv weitergeben und in anderem Kontext verwendet wird. Dies war auch bei dieser Dollfuß-Aufnahme der Fall. Unabhängig von einer rechtlichen Beurteilung dessen, kann man wohl der Meinung sein, dass es ja gar nicht schlecht ist, solche interessante Quellen weiter zu verbreiten, was vor allem durch das Internet immer leichter möglich ist. Die Gefahr dabei ist nur, dass Dokumente selten "für sich sprechen", sondern dass es notwendig ist, viel über sie und die Umstände ihrer Entstehung zu wissen.

Sie benötigen einen Kontext der Erläuterung, sonst können sie missverstanden werden, ganz abgesehen von der Gefahr, dass man sie in einen bewusst falschen Kontext stellt. Das ist nicht zu verhindern, wohl aber kann man durch seriösen Umgang mit solchen Quellen dagegenhalten – und gerade darin liegt die gesellschaftliche Aufgabe von öffentlichen Kultur- und Wissens-Institutionen wie der Österreichischen Mediathek. Nicht nur "Wir haben das Original", sondern auch "Wir versuchen, möglichst viel Information über das Dokument zu vermitteln" und, sehr wichtig, "Wir heben das Material für die Öffentlichkeit heute, aber auch für die vielen künftigen Öffentlichkeiten auf". (Rainer Hubert, 27.5.2022)

Rainer Hubert ist Historiker und Medienarchivar in Wien.
Von 1999 bis 2011 leitete er die Österreichische Phonothek/Mediathek.

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The Archivists Choice: Der österreichische Bürgerkrieg 1934 im Radio

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