Illustration: Fatih Aydogdu

Auf einmal ist ein Gerichtsprozess spannender als jede Netflix-Serie. Millionen Menschen in aller Welt verfolgen vor ihren Computer- und Handybildschirmen, wie die Hollywoodstars Amber Heard und Johnny Depp Details ihrer toxischen Beziehung auspacken, ihre Anwälte aufeinander loslassen und um die Gunst der Geschworenen ringen. Kameras und Mikrofone nehmen den zum Spektakel hochgejazzten Prozess auf, im Internet wird er in Echtzeit gestreamt. Im Fairfax County Courthouse in Virginia herrscht uneingeschränkte Medienpräsenz – wie in vielen anderen US-Bundesstaaten ist die Live-Übertragung von Gerichtsprozessen hier erlaubt. Im Gegensatz zu Österreich, wo Prozesse zwar öffentlich sind, aber nicht auf Video oder Ton aufgenommen und öffentlich verbreitet werden dürfen. Was spricht eigentlich dagegen, öffentliche Gerichtsverfahren hierzulande live zu streamen?

Live-Übertragungen von öffentlichen Gerichtsverfahren haben durchaus Vorteile. Sie schaffen mehr Transparenz in der Justiz; Gesellschaft und Medien können verfolgen, wie die Gerichte arbeiten, und sie leichter kontrollieren. Urteile lassen sich besser nachvollziehen und kritisieren; das Vertrauen in die Justiz wird gestärkt. Im Gerichtsalltag zeigen Livestreams, wie genau sich Prozessbeteiligte verhalten. Gestik, Mimik, Ausdrucksweise und Körpersprache erzählen mehr als ein schriftliches Protokoll. Verweigerte die Person auf der Anklagebank mehr als dreißigmal die Aussage, wäre das im Stream zu sehen und nicht nur im Protokoll nachzulesen.

Verbot schützt Persönlichkeitsrechte

Aus Sicht der Justiz spricht aber einiges dagegen, Prozesse über Ton und Video aufzunehmen und per Live-Stream auszustrahlen. Es geht in erster Linie darum, die Persönlichkeitsrechte der Prozessbeteiligten zu schützen. Sie sollen nicht gegen ihren Willen als mediale Schauobjekte an den Pranger gestellt werden. "Man zerrt Menschen in eine sehr, sehr breite Öffentlichkeit", sagt Sabine Matejka, Präsidentin der österreichischen Richtervereinigung, im STANDARD-Gespräch. "Wir haben massive Bedenken, ob man das machen sollte."

Kritiker befürchten, dass die Kamerapräsenz Einfluss auf das Verhalten der Personen auf der Zeugen- und Anklagebank haben könnte. In dem Wissen, in der Öffentlichkeit zu stehen, sagen manche vielleicht anders aus. Andere nutzen lieber ihr Recht, zu schweigen. Sehen sie vorab einen Livestream vom Prozess, könnte das ihre Aussagen beeinflussen. Im Heard-Depp-Prozess hatte das bereits reale Folgen: Die Richterin schloss eine Zeugin vom Prozess aus. Sie hatte zugegeben, Ausschnitte des Verfahrens im Stream nachverfolgt zu haben.

Gerichte unter Einfluss

Neben den Zeugen und Angeklagten sind auch Juristen nicht vor Einflussnahme gefeit. "Gerichte sind durch die Live-Übertragung noch mehr der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Das erhöht die Gefahr, dass sie sich beeinflussen lassen", sagt Verena Murschetz, Juristin am Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Innsbruck, dem STANDARD.

Wie Richter die öffentliche Debatte wahrnehmen, könnte auf deren Urteile abfärben. In Deutschland, wo seit 2018 Urteilsverkündungen fallweise per Livestream übertragen werden können, veranlasste das die Richterinnen und Richter, ihre Urteile in Form von wasserdichten juristischen Texten vorzutragen. Aus Sorge, alles, was sie sagen, könnte gegen sie verwendet werden.

"Der Prozess wird zur Bühne"

Livestreams funktionieren allerdings in beide Richtungen. Medien laufen Gefahr, von Beteiligten für ihre Zwecke instrumentalisiert zu werden. Wo Kameras stehen, sind Selbstdarstellung und Propaganda nicht weit. "Der Prozess wird zur Bühne", sagt Murschetz. "Es besteht die Gefahr, dass es mehr um die Show geht als um den Inhalt." Vor allem Verfahren wegen schwerer Verbrechen drohen durch das Livestreaming zum Medienspektakel zu werden. Mordprozesse könnten mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen als andere Verfahren. "Wenn Leute nur diese Art von Verfahren sehen und sich am Stammtisch und über Social Media darüber unterhalten, bleibt hängen: Das sind die Delikte, die in Österreich vorkommen. Obwohl sie eigentlich nur einen kleinen Teil ausmachen", sagt Murschetz.

Kompromisse möglich

Aus Sicht der Justiz überwiegen bisher die Nachteile, wenn es um die Live-Übertragung öffentlicher Prozesse geht. Zu wichtig der Persönlichkeitsschutz, zu unberechenbar die Medienwirkung. Dass die Übertragung live und in Echtzeit erfolgen muss, ist aber vielleicht gar nicht nötig. Murschetz sieht eine Alternative darin, Prozesse zwar nicht live zu übertragen, aber zumindest auf Video aufzuzeichnen. "Denn auch das führt zur Kontrolle und Nachvollziehbarkeit aller Vorgänge, die während der Hauptverhandlung geschehen sind", sagt sie. In manchen Ländern sind Videoprotokolle bei Prozessen schon verbreitet. Weiters wäre es möglich, Aufzeichnungen nicht live, sondern zeitversetzt zu veröffentlichen.

Wie in Deutschland wäre es denkbar, einzelne Teile von Gerichtsverfahren zu übertragen – wie etwa Urteilsverkündungen. Hier könnte Österreich nachziehen und es Deutschland und der EU gleichtun. "Darüber könnte man zumindest diskutieren und nachdenken", sagt Matejka. "In Fällen mit größerer Öffentlichkeitswirkung hätte das schon was." Die Gerichtssäle für die Kameras einen Spalt breit, aber nicht zu weit zu öffnen, wäre ein möglicher Kompromiss. Medien berichten sowieso aus den Gerichten. Am Ende sind sie dafür verantwortlich, objektiv zu bleiben und die Rechte von Beteiligten zu respektieren. Egal ob mit oder ohne Livestream. (Florian Koch, 20.5.2022)