Nach rund eineinviertel Jahren in Untersuchungshaft und vier Verhandlungstagen kann Herr G. das Graue Haus als freier Mann verlassen.

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Wien – Eigentlich hat Verteidiger Thomas Reissmann im Mordprozess gegen Herrn G. eine einfache Aufgabe. Sein Schlussplädoyer hätte beispielsweise lauten können: "Wir alle wissen einfach nicht, was mit Elisabeth G. passiert ist. Daher ist mein Mandant freizusprechen." Stattdessen stellt er in seinem überlangen Schlussvortrag in dem stickigen, sauerstoffarmen Verhandlungssaal 203 Vermutungen auf, geht ausführlichst auf Zeugenaussagen ein und beantwortet Fragen, die sich eigentlich niemand gestellt hat.

Davor waren am vierten und letzten Tag des Mordprozesses ohne Leiche noch die letzten Zeuginnen und Zeugen vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Claudia Zöllner aufgetreten. Die wiederum ein widersprüchliches Bild des 65-jährigen Angeklagten zeichneten, dessen in Scheidung lebende 31-jährige Frau am oder kurz nach dem 6. Dezember 2005 spurlos verschwunden ist.

Obszöne Botschaft an WC-Tür

Während ihn sein Schwager als "verlässlichen Menschen mit Handschlagqualität" bezeichnet und eine Frau, mit der G. kurz zusammen war, ihn als "mein bester Freund, hab mich immer auf ihn verlassen können", beschreibt, gibt es auch verstörendere Aussagen. So berichtet eine weitere Zeugin, der Angeklagte habe nach einigen Sexualkontakten mit ihr offenbart, es habe sich dabei nur um eine Wette gehandelt. Da sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, schrieb er auch eine obszöne Botschaft mit ihrem Namen und Telefonnummer auf die WC-Tür einer Autobahnraststätte, wofür G. sich im Saal bei der Zeugin entschuldigt.

Eine Sozialarbeiterin berichtet, der Angeklagte habe am 12. Dezember 2005, also drei Tage nachdem Elisabeths Eltern sie als vermisst gemeldet haben, bei einem Termin beiläufig und emotionslos gefragt, ob sie glaube, dass er etwas mit dem Verschwinden seiner Nochgattin zu tun habe. Da das Gespräch in einem abgelegenen Büro geführt wurde, habe sie ein mulmiges Gefühl bis hin zur Furcht bekommen.

Staatsanwältin sieht viele Indizien

Staatsanwältin Julia Kalmar fasst in ihrem Plädoyer nochmals die Indizien zusammen, die für sie die Schuld des Angeklagten beweisen. So habe G. im Laufe der vergangenen 16 Jahre mehrmals verschiedene Versionen darüber erzählt, was sich am Nachmittag des 6. Dezember 2005 und in der Früh des 7. Dezember abgespielt hat. Die Version, die der Angeklagte im Prozess erzählt hat, dass Elisabeth nach 16 Uhr zu ihm gekommen sei, um letzte Habseligkeiten zu holen, dann bis nach 19 Uhr trainieren war, während er mit der gemeinsamen Tochter in einem Einkaufszentrum war, glaubt die Anklägerin nicht. Denn es gebe keine Zeugen, die die Frau in der Zeit gesehen hätten, außerdem habe sie gar keine Trainingskleidung mitgehabt.

Auffällig ist für die Staatsanwältin auch, dass G. zwar den Ermittlern vieles von sich aus erzählt hat, erst durch eine Kontoöffnung aber bekannt wurde, dass er am 7. Dezember 2005 in einem Baumarkt Folie, Beton und Bitumenanstrich gekauft hatte. Auch die Tatsache, dass er sich am 9. Dezember, als das letzte Mal das Mobiltelefon von Elisabeth eingeschaltet war, für rund zwei Stunden bei einem Freund einen Kleintransporter ausgeliehen hat, erregt Kalmars Misstrauen.

Mord als Mosaik

Dann sind da noch die Handys von Angeklagtem und Verschwundener. Zwischen 6. und 9. Dezember 2005 waren beide Geräte immer bei einem von drei Sendemasten in Wien-Donaustadt eingeloggt, obwohl Elisabeth eigentlich in einem anderen Bezirk wohnte. "Es sind lauter kleine Mosaiksteine. Zusammen ergeben sie ein Bild: den Mord an Elisabeth", fasst die Staatsanwältin zusammen.

Verteidiger Reissmann appelliert dagegen an die fünf Laienrichterinnen und drei Laienrichter, auf die Unschuldsvermutung zu achten. Die Anklage habe kein schlüssiges Motiv vorbringen und keinerlei handfeste Beweise vorlegen können. Das sieht auch G. selbst so, als er von seiner Möglichkeit, ein letztes Wort an das Gericht zu richten, Gebrauch macht. "Ich habe in den vier Tagen keinen einzigen schlüssigen Beweis gehört, genauso wenig wie in den 16 Jahren davor", sagt er. Und beteuert, "hundertprozentig keinen Mord" begangen zu haben.

Angeklagter wird enthaftet

Die Geschworenen glauben ihm das und sprechen ihn mit acht zu null Stimmen frei. Da die Staatsanwältin keine Erklärung abgibt, ist das Urteil nicht rechtskräftig. Vater, Bruder und Schwester der Verschwundenen, die von G. jeweils 40.000 Euro Schmerzengeld forderten, werden auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Zöllner beschließt als letzten Akt die Enthaftung des Angeklagten, der auch den Freispruch ohne sichtliche Gemütsregung aufnahm.

Nach über eineinviertel Jahren in Untersuchungshaft steht G. nun eine Haftentschädigung zu. Diese ist seit 2005 gesetzlich geregelt. In den Jahren von 2006 bis 2011 wurde jedes Jahr über eine Million Euro an Personen ausgezahlt, die entweder gesetzeswidrig oder ungerechtfertigt im Gefängnis gesessen sind. Offenbar wollte sich die Politik hier Geld sparen, denn 2011 wurden die Bestimmungen novelliert und festgeschrieben, dass einem pro Tag in der Zelle zwischen 20 und 50 Euro an Entschädigung zustehen. Die Folge: Die ausgezahlte Summe ging deutlich zurück, im Vorjahr erhielten 86 Anspruchsberechtigte zusammen 343.730 Euro, heißt es bei der Pressestelle des Justizministeriums. G. kann also mit mindestens 9.000 bis knapp 23.000 Euro Entschädigung für seine Zeit in der Untersuchungshaft rechnen. (Michael Möseneder, 19.5.2022)