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Recep Tayyip Erdoğan will sich das türkische Ja zur Nato-Norderweiterung möglichst teuer erkaufen lassen.

Foto: REUTERS/Yves Herman/Pool/File Photo

Davon, dass die Nato die historischen Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands zügig durchwinkt, wie es Insider jüngst prophezeit hatten, kann keine Rede mehr sein. Der Aufnahmeprozess für die beiden Länder sollte bereits am Mittwoch starten – doch der Präsident des Nato-Lands Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, hat seine Androhung, eine Mitgliedschaft zu blockieren, ernst gemacht. Die nordischen Länder stellte er als "Brutstätten" für Terror dar.

Erdoğan, der mit seiner Blockade dem Verteidigungsbündnis monatelangen Ärger bescheren könnte, lässt seine Forderungen häppchenweise erahnen: etwa, dass die schwedische Führung den Kontakt zur syrischen Kurdenmiliz YPG abbrechen soll – und dass westliche Embargos für Waffenlieferungen aufgehoben werden. Die USA, die das militärische Rückgrat der Nato bilden, zeigen sich aber weiter zuversichtlich, Erdoğans Nein bald in ein Ja umwandeln zu können.

Frage: Was bedeutet das vorläufige Nein der Türkei?

Antwort: Um Nato-Mitglied zu werden, müssen die Mitgliedsstaaten Anwärter einstimmig dazu einladen, dem Bündnis beizutreten. Erst im Anschluss werden offizielle Vertreter – in diesem Fall aus Finnland und Schweden – nach Brüssel eingeladen, um politische und militärische Bedingungen abzuklären. Das ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass alle 30 Nato-Staaten die Beitritte ihren jeweiligen Rechtssystemen entsprechend ratifizieren – all das kann mehrere Monate dauern. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte den beiden nordischen Anwärtern daher unter dem Eindruck der russischen Invasion der Ukraine einen raschen Prozess in Aussicht gestellt. Doch schon jetzt kündigt sich eine Verzögerung an: Weil der türkische Nato-Botschafter am Mittwoch eine Abstimmung über die Norderweiterung in Brüssel blockierte, kommt die erforderliche Einladung derzeit gar nicht zustande.

Frage: Was fordert die Türkei?

Antwort: Da ein Beitritt ohne türkische Zustimmung nicht möglich ist, versucht Erdoğan, der schon jetzt auf die Wahlen 2023 schielt, nun so viele eigene Anliegen wie möglich durchzusetzen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sprach deshalb jüngst von einer "Basarmentalität" Erdoğans, der lediglich den Preis für einen Beitritt in die Höhe treiben wolle. Zunächst will Erdoğan, dass die USA Sanktionen aufheben, die diese wegen des türkischen Erwerbs des russischen Raketenabwehrsystems S-400 verhängt hatten. Die USA hatten die Türkei aus dem Programm für ihr modernstes Kampfflugzeug F-35 hinausgeworfen. Ersatzweise soll Washington nun die Lieferung von F-16-Kampfjets genehmigen. US-Präsident Joe Biden hat seine Zustimmung bereits vergangene Woche signalisiert, nun ist der US-Kongress am Zug. Zudem fordert Erdoğan auch die Aufhebung von Waffenembargos, die einige EU-Länder, etwa Schweden, aus Protest gegen die türkische Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien 2019 verhängt haben. Während bei diesen Punkten ein Entgegenkommen möglich scheint – London hat die Exportbeschränkungen bereits im April gelockert –, wird es bei der sogenannten Terrorfrage sehr schwierig.

Frage: Worum geht es bei den sogenannten Sicherheitsbedenken der Türkei?

Antwort: Die Türkei wirft den USA und diversen EU-Ländern – insbesondere Schweden – seit langem vor, der kurdischen Arbeiterpartei PKK indirekt unter die Arme zu greifen. In Syrien hatte sich die US-Armee im Kampf gegen die IS-Miliz der YPG-Miliz als Bodentruppen bedient. Diese unterhält enge ideologische Beziehungen zur PKK. Während Letztere vom Westen wie in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wurde, ist das für die YPG nicht der Fall. Erdoğan sieht in der YPG dagegen einzig den syrischen PKK-Ableger. Von Biden erwartet Erdoğan nun die Einstellung der Waffenlieferungen an die YPG.

Frage: Welche Rolle spielt Schweden?

Antwort: Das Land hat eine bedeutende kurdische Diaspora und galt lange als bevorzugtes Exilland für PKK-Kader und politisch verfolgte Kurden. Erdoğan will nun schriftliche Zusagen über die Auslieferung von rund 30 Exilanten. Über den türkischen Botschafter in Stockholm ließ er ausrichten, dass die schwedische Regierung zudem ihre Kontakte zur YPG abbrechen müsse. Für Schweden sind Ankaras Forderungen ein Dilemma: Es will den Nato-Beitritt vorantreiben, ohne dem autoritär regierenden Erdoğan große Zugeständnisse zu machen. Bereits die Nato-Frage hatte für Spannungen bei den regierenden Sozialdemokraten gesorgt – im Herbst stehen Wahlen an.

Frage: Was wird gegen den Widerstand der Türkei unternommen?

Antwort: Schweden und Finnland haben Gesprächsbereitschaft signalisiert. Erdoğan will die Verhandlungen aber lieber über die USA führen. Eine angekündigte Verhandlungsdelegation beider Länder lud er wieder aus. Indes lobte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sein Treffen mit seinem US-Amtskollegen Antony Blinken in New York: Dieser habe Verständnis für die türkischen Sicherheitsprobleme gezeigt. Çavuşoğlu signalisierte aber auch: Ohne Entgegenkommen bleibe die Türkei bei ihrem Nein. Biden selbst zeigte sich zuversichtlich: "Wir schaffen das schon", sagte er, bevor er am Donnerstag den finnischen Präsidenten und die schwedische Ministerpräsidentin im Weißen Haus empfing.

Frage: Was erhofft sich Erdoğan von seinem Drahtseilakt zwischen Russland und den USA?

Antwort: Alle diese Aktionen dienen natürlich auch dazu, Russland zu signalisieren, dass die Türkei weiter als Standort für Gespräche mit der Ukraine geeignet ist. Sie beteiligt sich weiter nicht an den Sanktionen gegen Russland und hofft stattdessen auf viele russische Touristen in diesem Sommer. (Flora Mory, Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 19.5.2022)