Zumindest dieses Ukraine-Mural, das im heurigen Frühjahr in Barcelona entstanden ist, sorgt für Hoffnung.

Foto: APA / AFP / Pau Barrena

Wegen dieses verfluchten Krieges bin ich das erste Mal in meinem Leben, was mir Gesinnungstreue und Männchen der Tat immer schon vorwarfen: unentschlossen. Ratlos hechle ich zwischen den Positionen hin und her wie ein herrenloses Hündchen. Dabei mache ich es mir nicht leicht, nicht so leicht zumindest, lauthals Positionen zu bellen wie Marschbefehle.

Aber da auch Zögerer und Zauderer im Krieg der Meinungen eine Funktion haben sollten, biete ich mich beim Zweikampf zwischen Bellizisten und Pazifisten, wenn schon nicht als Mediator, so doch als Sekundant an. Und werde dafür sorgen, dass die Duellanten einander fair und regelgerecht erschießen. Der Sieger wird dann von mir erschossen.

Ich kann Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, nicht verdenken, wenn Sie diesen unerwarteten kleinen Scherz geschmacklos finden, lediglich möchte ich Ihnen versichern: Es ist meine Art auszudrücken, dass ich sowohl an Kriegstreibern wie Friedensbewegten dieser Tage die Male bürgerlicher Verrohung spüre. Ja, sogar bei mir.

Komplexitätsreduktion

Krieg, das ist nicht nur der größte Horror. Er ist die größte Komplexitätsreduktion. Zumal ein Angriffskrieg, ein feiger Überfall, wie ihn die Sowjetunion 1941 durch das Deutsche Reich, wie ihn die Ukraine durch Russland jetzt erleben musste. Ein besonders bedauerliches Glied in der Kettenreaktion der Barbarei ist, dass solch ein Überfall auch die Überfallenen barbarisiert.

Der Krieg lässt als Erstes die Ambivalenzen internieren, er zwingt zur Position für oder wider den Feind, zur Annahme des Gewaltprinzips und zum Entfesseln, Schüren und Erzeugen destruktiver Energien; er rehabilitiert den Psychopathen als Helden, als Zerstörer und Schutzherren des Lebens, als künftigen Ehrenmann, Schwiegersohn und Politiker.

Differenzierendes Denken erweist sich endlich als das, als was es in Friedenszeit schon verdächtigt wurde: nutzlos, egozentrisch und gemeinschaftsschädigend. Es darf sich im männlichen Kampf oder zumindest beim Nachladen bewähren, ansonsten bleibt ihm nichts als Fahnenflucht oder der Luftschutzbunker. Angriffskriege schmieden Völker aus Menschen, die alles Talent hatten, eine Gesellschaft zu werden.

Aus trauriger Notwendigkeit

Die Kulte der Heimat, der Waffe, der Tat und die Bekämpfung des inneren Feindes putschen sich aus trauriger Notwendigkeit zunächst zu obersten Prinzipien der Stunde und werden selbst nach heroischem Sieg so schnell nicht wieder der Zivilität das Feld räumen.

Dabei ist die moralische Verantwortung im aktuellen Krieg nicht debattierbar. Und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit begann nicht erst beim ersten Kriegstoten, sondern beim ersten Diabetiker, der kein Insulin bekam, beim ersten Kind, das durch den Einschlag eines Blindgängers traumatisiert wurde.

Der hinterhältig überfallene Staat braucht kein Leumundszeugnis vorzuweisen, um internationale Solidarität und Unterstützung zu beanspruchen. Er bedarf allerdings auch nicht der Glorifizierung und der selektiven Unterdrückung von Wahrheit.

Barbarei der Vereinfachung

In gespenstischer Schnelle trat auch bei uns ein, was feinsinnige Menschen vor früheren Weltkriegen schon bezeugten. Als die ukrainische Bevölkerung die russischen Panzer noch mit Pfeifkonzerten empfing und ihre Fahrer mit falschen Richtungsangaben in die Irre lockte, begann die europäische in den sozialen Medien bereits, Sandsackwälle gegeneinander aufzuschlichten.

Dann wurde das Feuer eröffnet. Die Stunde der intellektuellen Prepper und Reserveoffiziere war gekommen. Der öffentliche Diskurs glich einer Generalmobilmachung, bei der sich die krisengebeutelten, von den Ereignissen zutiefst verstörten Menschenmonaden der jeweils großmäuligsten Meinungsgang unterordneten und aus Angst, die eigenen Zweifel könnten einen als "einen der anderen" ausweisen, am rücksichtslosesten gegen jede abweichende Meinung vorgingen.

Im Krieg beneide ich am wenigsten die Partei, welche das Recht auf ihrer Seite hat, weil sich alle Scheußlichkeit, die ein solcher notwendig in Menschen entfesselt, hinter moralischen Tarnkappen austoben kann, und nicht anders verhält es sich an den Heimatfronten der Zaungäste solch eines Krieges.

Kollektive Häme

Der kritischen Psychologie und scharfsinnigen Dichtern und Dichterinnen verdankt sich die Einsicht, dass unsere edelsten Absichten oft von dunkelsten Trieben unterfüttert sind. Die moralisch gerechte Sache ist ein Magnet für Vergeltungs- und Splatterfantasien, Ambiguitätsintoleranz und jenen Egoismus, der sich als Empathie ausgibt, die ja, wie die Spiegelneuronenforschung erkannt hat, sich dorthin ausdünnt, wo ihre Objekte aufhören, uns zu ähneln, also Putin erst zum Hitler werden lässt, wenn er Organic Coffeeshops in Kiew beschießen lässt, aber bei seinen Bombardements Aleppos inaktiv blieb, da Gewalt ja, wie wir alle wissen, dort irgendwie zur Folklore gehört.

Wie es um die Moral unserer digitalen Truppe bestellt ist, ließ sich an der kollektiven Häme über den Ertrinkungstod der Besatzung des Flaggschiffs Moskwa ermessen, welche die sozialen Medien fröhlich flutete.

So ein Krieg ordnet die Verhältnisse, besonders in Zeiten kognitiver Verwahrlosung liefert er klare Orientierungsachsen und beschenkt die Halbbildung mit dem narzisstischen Trumpf, sich dem Blabla der notorischen Differenzierer überlegen zu fühlen.

Endlich ist die Welt so, wie sie das liberale Feuilleton immer zeichnete: freie gegen unfreie Welt. Und basta! Zum Sündenbock eignet sich bestens die Linke, die immer öfter pauschal der Parteinahme für Putin bezichtigt wird. Dass die University of Florida als Protest gegen den Ukraine-Krieg ein Schild des Russenhassers Karl Marx entfernen ließ, mochte bizarr anmuten, doch war es ein Menetekel für die allgemeine Tendenz, Tabula rasa mit dem inneren Feind zu machen.

Elben und Orks

Dass ein Teil der antiimperialistischen Linken den Putin-Faschismus bagatellisierte und den Putin-Kapitalismus ignorierte, wird zum Wesensmerkmal einer jeden Kapitalismuskritik verallgemeinert. Denn im Manichäismus des neuen Endkampfs kann Kritik des eigenen Lagers nur eines sein: Komplizenschaft mit dem Feind.

Und wehrkraftzersetzendes Blendwerk all die ermüdenden Analysen, inwiefern unsere Freiheiten doch etwas mit den Unfreiheiten der anderen zu tun haben mögen und inwiefern die neuen Fronten nicht nur den Endkampf zwischen Elben und Orks darstellen, sondern etwas mit globaler Krisendynamik zu tun haben könnten.

Was mich an vielen Bellizisten, deren Positionen ich mitunter teile, anwidert, ist, dass sie sich gegenüber vielen Pazifisten, deren Positionen ich mitunter teile, wie per digitales Kriegsrecht wildgewordene Freikorps aufführen. Es reicht nicht, dass sie ihre Argumente darlegen, sie müssen jeder Gegenmeinung ihre Gewehrkolben ins Gesicht schlagen und jede produktive Skepsis als Gegenmeinung diffamieren – um ihr dann ihre Gewehrkolben ins Gesicht zu schlagen.

Drei Bekenntnisgruppen

Mit ihrem Moralismus im Anschlag, jenem, wie es Wolfgang Merkel kürzlich im STANDARD nannte, "ostentativen Überschuss einer moralischen Egozentrik", sortieren sie jede Gegenmeinung ohne Recht auf Anhörung in drei Bekenntnisgruppen: 1. Ich bin weltfremd, feig und naiv, lacht mich aus. 2. Ich bin ein dummer Putin-Versteher, bespuckt mich. 3. Ich bin ein böswilliger Putin-Troll, tögelt mich.

Reflexionen werden nicht auf ihren Gehalt geprüft, sondern in Analogieschlüssen den jeweils positiv oder eben als Ausgeburt des Abartigen geframten Feind-Freund-Blöcken zugewiesen. Souverän ist wieder einmal, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Wer hätte sich gedacht, dass sich dem Warmduscher und Schattenparker der 90er-Jahre 30 Jahre später der Atombombenfürchter hinzugesellt und als untrüglichster Ausweis von Feigheit, Niedertracht, Mitläufertum und Empathielosigkeit gilt, wegen der Krim keinen Bock auf Verglühen zu haben.

Freund-Feind-Rhetorik

Besonnene Menschen fühlen sich in diesem Klima des intellektuellen Terrors wie bei der Ausgangssperre erwischt und genötigt, jeden ihrer Gedanken mit einem Bekenntnis gegen Putin und der Verurteilung des Überfalls auf die Ukraine einzuleiten, was sie umso verdächtiger macht. Wie im Krieg gibt es vorübergehenden Schutz nur in einem der beiden Lager, selbst wenn man deren jeweilige Parolen und Selbstgerechtigkeit nicht teilt.

Paradoxerweise zerstört diese Polarisierung genau jenen Pluralismus, den sie vor dem Putinismus zu schützen glaubt. Der Politologe, der unaufgeregt ihre Nazivergleiche in der Sache widerlegt, die Historikerin, die sie abmahnt, den Begriff Genozid bedachter zu verwenden, oder der Kurde aus Afrîn, der sie fragt, wo ihre gerechte Empörung war, als Erdoğans islamistische Banden in seiner Heimatstadt wüteten, kommen ausnahmslos in den Ruch, Putin-Trolle zu sein.

Konsequenterweise müsste es indes auch allen US-Geostrategen vom Fach so ergehen, die frei aus der Schule plaudern, welche Interessen sie verfolgen. Im Vergleich zum liberalen europäischen Feuilleton, das immer noch in der Reagan’schen Diktion vom Reich des Bösen steckengeblieben ist, sind die Herrschaften vom State Departement erfrischend ideologiefrei. Sie haben es nicht nötig, das liberal-demokratische Management des Kapitalismus als die bessere Alternative zum diktatorisch-nationalistischen des Putinismus zu rechtfertigen. Und den Ukrainern steht es als Bürgern eines souveränen Staats ohnehin frei, ihre sozialen Hoffnungen nicht von diesem, sondern vom Westen enttäuschen zu lassen.

"Ein Heer, das sich soeben aus Charkiw zurückziehen musste, kommt weder bis nach Biele- noch bis zum Tullnerfeld."
Foto: APA / AFP / Pau Barrena

Eine nüchterne Ankündigung

Nie haben die Yanks geleugnet, wie sie die Maidanrevolte 2014 zu ihren Gunsten manipulierten, und freimütig geben sie zu, dass sie, ohne sich die Finger schmutzig zu machen, Russland auf Kosten der ukrainischen Bevölkerung durch deren Armee militärisch ausbluten lassen werden. So wie ein Scherz den größten Versager der russischen Geschichte, Wladimir Putin, wegen seiner Verdienste für die Einheit des Westens auf der Musterrolle der Nato sehen will, könnte man Biden getrost als Putin-Troll überführen, gibt er doch all die linke Propaganda zu, die europäische Bellizisten für Manipulationen russischer Thinktanks halten.

Als er Putin vor einem Jahr einen "Killer" nannte, war das keine moralische Anklage, sondern die nüchterne Ankündigung, dass die US-amerikanische Außenpolitik ihn fortan als solchen behandeln werde. Dieser Pragmatismus, zu dem man stehen kann, wie man will, erlaubt Putin nicht, die Großmachtrolle zu spielen, die er usurpiert, weil man mittlerweile weiß, was für ein realitätsvergessener Aufschneider er ist.

So viel sich USA und Nato auch zuschulden kommen ließen, sie schützen die Welt dieser Tage per passiv aggressive Besonnenheit vor kriegsgeilen liberalen Europäern, die eine Flugsverbotszone über der Ukraine fordern und den Holocaust relativieren, indem sie Putin zum gefühlt hundertsten Hitler seit Hitler erklären.

Worin klügere Bellizisten freilich recht behalten, ist ihre Kritik eines abstrakten Pazifismus, der sich entweder in die bequeme Position der Äquidistanz gegenüber Opfer und Täter begibt oder einem Aggressor, der nicht verhandeln will, mit einem Verhandlungsfrieden nachläuft. Denn der Gescheite gibt nach, und der Blöde fällt eben nicht in den Bach, wie die Volksweisheit behauptet. Pazifismus ist leider ein hehrer Irrsinn, wo ein einseitig proklamiertes postheroisches Zeitalter den Heroismus der Banditen auf den Plan ruft und freiwillige militärische Schwäche die Halbstarken. Und natürlich ist nicht einzusehen, warum die Ukraine, deren Armee soeben in der Offensive ist, gestohlenes Staatsgebiet an Russland abtreten soll.

Positionen des offenen Briefs

Man muss die Positionen des offenen Briefs nicht teilen, dennoch ist er das Dokument einer mäßigenden Vernunft, dessen Wortlaut all die Schmähungen und Unterstellungen nicht verdient. Der Vorwurf des Sofapazifismus, der von Ukrainern auch das Hinhalten der linken Wange verlangt, steht in Pattstellung zum Bellizismus, der aus demselben Sofa heraus von ihnen den Heldentod erwartet.

Dass der Brief eine bessere mediale Performance verdient hätte als etwa durch Peter Weibel mit seiner vulgärlinken Leugnung von Putins Großmachtplänen oder Professor Welzer als deutschen Verantwortungspazifisten qua Nazistammbaum täuscht darüber hinweg, dass manche seiner Unterzeichner wie Jürgen Habermas eine höhere prognostische Vernunft bekunden als jene, die sich selbst Pragmatismus und den Pazifisten Traumtänzerei zuschreiben.

Es gibt einen zentralen Punkt, in dem der Pazifismus mehr Augenmaß zeigt als die Prinzipienreiter der Apokalypse. Viele Bellizisten versteigen sich in die rigorose Phraseologie eines systemischen Endkampfs zwischen den Mächten des Lichts und des Dunkels und geben sich als emotionsstarke, aber gefährlich weltfremde Novizen in der Sphäre des Politischen zu erkennen.

Ihre Heldenlieder halten sie für die Marseillaise, sich selbst für Internationale Brigadisten der Onlinefront. Keiner der Professionalisten des Kalten Krieges auf beiden Seiten glaubte einst je den Unfug von "unseren Werten", sie betrieben Realpolitik und schlossen Pakte mit ihnen nützlichen Verbrechern. Machiavellismus ist nicht nur berechnend, sondern berechenbar. Unberechenbar werden die Zyniker der Macht erst, wenn sie ihre Ideologien zu glauben anfangen.

Putins Paradoxie

Putin und seine Spießgesellen wussten, dass ihre Kapazitäten nicht für eine völlige Okkupation der Ukraine reichten. Was die Spießgesellen wussten, Putin aber nicht: dass auch die Kapazitäten ihrer Armee nicht hinlangten, die anfänglichen Kriegsziele zu erreichen.

Es trat jene Paradoxie ein, dass die gewünschte Sonderoperation nach US-Vorbild – schnelles Auswechseln der Regierung durch Vasallen bei größtmöglicher Schonung der Zivilbevölkerung – kläglich scheiterte und in die konventionelle Kriegsführung der vergangenen Jahrhunderte zurückfiel, wo der Kollateralschaden wieder zum Hauptzweck wird. Die Gewaltexzesse und Zerstörungen sind das exakte Gegenteil russischer Stärke, auch wenn sie von europäischen Angstpredigern als Ausdruck eines in sich kohärenten neofaschistischen Masterplans, wenn nicht sogar russischer Mentalität, fantasiert werden.

Nicht dass Putin kein Faschist wäre und nicht dass in seinem Umfeld keine Visionen von Eurasien und der Vernichtung der liberalen Demokratien herumgeisterten, doch legitimiert sich die ideelle Totalmilitarisierung im Westen durch die Angst vor einer vampirisch expansiven Großmacht, die von nichts anderem beseelt sei als Kreuzzügen gegen westliche Freiheiten und denen Komplizen wie Le Pen, Orbán, Kickl und Hocke die Stadttore öffnen. Doch ein Heer, das sich soeben aus Charkiw zurückziehen musste, kommt weder bis Biele- noch bis zum Tullnerfeld.

6255 Atomsprengköpfe

Das ganze Putin’sche Schreckenszenario erwies sich als Potemkin’sches Dorf, als großkotzige Aufschneiderei einer personalisierten Autokratie, die als dritte Großmacht groß mitmischen wollte und diese Behauptung auf eine mächtige Armee sowie den Export von Rohstoffen und Söldnern gründete. Ihre Produktivkräfte sind die eines Schwellenlandes, und in der Allianz mit China, in die sie gedrängt wird, wird ihr nicht mehr als die Rolle einer inferioren Vasallin zukommen. Eben das macht diese Narren so gefährlich, inklusive 6255 Atomsprengköpfen und der Unfähigkeit, als Verlierer aus dieser von ihnen verursachten Hölle auszusteigen.

Doch der Krieg kann wie jeder Krieg nur durch einen Kompromiss oder die totale Niederlage des Gegners beendet werden. Selbst wenn es keine Atomwaffen gäbe, würden keine Alliierten in Moskau einmarschieren und würde Putin nicht nach Den Haag ausgeliefert werden; das Riesenland ist weder besetzbar, noch ist seinen feindseligen Bürgern eine Fremdherrschaft aufzubürden, es wird keinen Aufstand der Russen geben, und es steht zu befürchten, dass Sanktionen, welche vorrangig die Bevölkerung treffen, diese noch stärker in antiwestliche Nationalmystik schrauben werden.

Nationalismus der Notwehr

Niemand drängt auf Kapitulation der Ukraine. Doch auch wenn der unmöglich richtige Eindruck vermittelt wird, die ukrainische Zivilbevölkerung sei geschlossen bereit zum heroischen Opfertod und Teile des Trikonts zum solidarischen Hungertod wegen ausbleibender Getreidelieferungen, dieser Krieg kann, wie bis auf wenige Ausnahmen jeder Krieg der letzten 200 Jahre, nur auf dem Verhandlungstisch beigelegt werden.

Niemand muss je mehr wie Frau Kneissl vor Putin knicksen, der sein Leben aber höchstwahrscheinlich auch nicht in einem Führerbunker beendet. Somit wird man dem bösesten Mann der Welt Angebote machen müssen oder aber der weiteren Totalmilitarisierung der Welt mit all ihren katastrophalen materiellen, seelischen und epistemischen Folgen ihren Leerlauf lassen.

Je länger der Krieg dauert, desto eher wird die ukrainische Seite westliche Sympathien verlieren, sobald sich der noch heroisierte Nationalismus der Notwehr zum totalitären Prinzip auswächst. Schon der Ukraine zuliebe sollte das verhindert werden.

Zuletzt vom Autor erschienen: Richard Schuberth, "Die Welt als guter Wille und schlechte Vor-stellung". 21,– Euro /452 Seiten. Drava-Verlag, 2022
Cover: Drava

Pazifisten haben unrecht, wenn sie Notwehr verdammen, doch behalten sie recht in ihrem oft intuitiven Wissen um die Millionen fassbaren und unfassbaren Makro- und Mikroschäden dieser Destruktion. Eine davon ist eine seelische Transformation, wie wir sie von den verpimpelten und verlorenen Bürgersöhnchen am Vorabend des Ersten Weltkriegs kennen: die Kompensation der eigenen Harmlosigkeit und ontischen Tristesse durch kollektives Drängen zu Schicksal, Opfer und Tat.

Der Unterschied zu den Scheißkerlen von heute: Die von damals ließen nicht andere sterben, sondern marschierten selbst an die Front. Eines dieser Machomüttersöhnchen, das den Krieg wirklich kannte, war Hemingway, und der schrieb: "Ein Angriffskrieg, das ist das große Verbrechen gegen alles, was gut ist in der Welt. Ein Verteidigungskrieg, der notwendigerweise so früh als möglich in einen Angriffskrieg übergehen muss, ist das unerlässliche große Gegen-Verbrechen. Aber glaubt niemals, dass Krieg, egal wie notwendig oder gerechtfertigt er auch sein mag, kein Verbrechen ist. Fragt die Infanterie und fragt die Toten." (Richard Schuberth, ALBUM, 22.5.2022)