Friedenskundgebung für die Ukraine: "Dieser Sturm fegt jedes rationale Moment hinweg."

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Mit dem Zustandekommen eines Interviewtermins ging es in etwa so wie mit dem Schreiben des vorliegenden Werks: raschest. Innerhalb weniger Stunden saß man sich auf Zoom gegenüber, die Interviewte in Wien, der Interviewer in Berlin, eine Stadt, mit der die Schriftstellerin übrigens Aufbruchshoffnungen, aber auch Enttäuschungen verbindet.

STANDARD: Frau Streeruwitz, Sie haben ein Buch über den Krieg geschrieben. Spontan?

Marlene Streeruwitz: Ganz anlassbezogen, raschest geschrieben, in einer Art Raserei. In so etwas fließt die ganze Lebensarbeit hinein, weil es um eine Zusammenfügung geht. Es ist eine Abrechnung pur. Ich gehe Gedankenfäden entlang und finde Widersprüche, hier kann man sich aber nicht mehr auf ein Fragment beziehen, sondern es geht um die Wurst.

STANDARD: Wie sind Sie denn seit dem 24.2. zurande gekommen?

Streeruwitz: Ich bin überhaupt nicht zurande gekommen. Der erste Schock ist weg. Die Vorstellung, dass das alles so möglich ist, wie wir das erleben, ist weiter unvorstellbar. Es passiert etwas, und ich kann und will es nicht glauben. In diesem Auseinanderklaffen ist das Buch geschrieben worden.

STANDARD: Sie verstehen den Krieg als einen Ausdruck des Neoliberalismus, des Patriarchats, auch der Unterhaltung, die ist allerdings eher schon eine Folgeerscheinung.

Streeruwitz: Ich würde die Kaskade so anlegen: An der Spitze ist das Patriarchat, eigentlich in unveränderter Form. Durch den Krieg muss es sich nicht mehr verkleiden, nicht einmal Machiavelli muss da noch eine Ethik der Verstellung anbringen, das ist der unverlogenste Zustand im Grund und zugleich der schrecklichste. Von da geht es weiter zu den heutigen Formen: Wo das Patriarchat sitzt, wo es sich gütlich tut, wie es sich immer wieder chamäleonartig verändert und auftaucht. Unterhaltung ist das Werkzeug, mit dem gearbeitet wird, um aufrechtzuerhalten, dass es nicht gelungen ist, andere Sprachen zu etablieren. Das haben wir ja in den 60er- und 70er-Jahren doch angenommen, dass es anders geht. Dass man sich am Gemeinwohl orientieren und andere Formen des Zusammenlebens etablieren könnte, das ist alles sehr schwach und immer am Anfang.

STANDARD: Sie schreiben über Krieg als Comedy. Wie wäre das zu verstehen?

Streeruwitz: Mich hat immer Lachen als anthropologische Invariante sehr interessiert. Alle Kulturen wissen, dass es Lachen gibt wie Weinen. Im Krieg um die Quoten hat man das künstlich nachgestellt, mit Lachen aus der Dose oder Lachen auf Aufforderung, wenn sie in einem Studio dabei sind. Es gibt eine immer dringlichere Erwartung dieses Lachens, das ist kein freies Lachen, sondern Manipulation. In den USA ist das gekippt, es gibt insgesamt nur mehr Comedy. In der Politik gibt es keine Grenzen mehr, was ernst ist und was nicht. Es gibt Menschen, die ihre Rechtsradikalität wie einen Witz herumtragen, und damit tragen sie diese Kriegsbotschaft.

STANDARD: Wie sehen Sie den ukrainischen Präsidenten Selenskyj, einen früheren Comedian? Als gelungene Verkörperung eines Freiheitskampfs oder latent schon als einen autoritären Herrscher in der Zukunft?

Streeruwitz: Vom Weg her gibt es nur die Autorität. Das Verbleiben in einem Skript ist sicher nicht Freiheit. Das passiert da.

STANDARD: Ist Freiheit nicht eine Grunderfahrung Ihrer – und meiner – Generation, die lange Frieden hatte und Gesellschaft verändern wollte? In einem immer liberaleren Österreich?

"Ich würde mir erhoffen, dass es einen Punkt gibt, an dem kein Staat Bürgerinnen und Bürger dazu anhalten kann, andere zu töten." Marlene Streeruwitz
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Streeruwitz: Das ist eine Lebenserfahrung, wie etwas in der Kultur beginnt, einen neuen Weg anzutreten, und dann kommt ein Umbruch, der das alles zunichtemacht. Erinnern wir uns an die 70er-Jahre und an die Familiengesetzgebung während der sozialistischen Regierung, damals wurde dieses andere Zusammenleben implementiert. Und in den 80ern ist dann über den Einfluss der ÖVP die Verwirtschaftlichung angegangen worden und nicht die soziale Revolution. Auch 1989 hat sich etwas aufgetan, da war Berlin ein spannender Ort, und in aller Schnelligkeit hat die Immobilienbranche die alte Macht reetabliert. Ich kenne kaum eine größere Demonstration von Macht durch Bau als die in Berlin.

STANDARD: Sie schreiben: Krieg ist das stabilste Modell, wie Geschichte gemacht wird. Das heißt indirekt: Aufklärung ist ein schwaches Modell, wie Geschichte gemacht wird?

Streeruwitz: Und trotzdem ist die Aufklärung keine Illusion. Ich überlege in jedem Satz, ob ich demokratisch bin oder nicht. Das gelingt nicht immer, stellt sich im Text aber ununterbrochen als Frage. Wir machen jetzt auch einen Brief an die Zivilgesellschaft, einen Aufruf dazu, Frieden zu denken und Friedenshandeln nicht aufzugeben in diesem Sturm, der herrscht. Da muss ich mich auf meine Jugend berufen, als mein Vater, der deutscher Offizier war, mit dem Schnitzel am Sonntagstisch die Tet-Offensive im Vietnamkrieg nachgestellt hat, und alles war falsch. Heute ist das wieder so: Oldies, die beim Heurigen versumpert sind, wissen wieder, was Strategie ist. Dass wir in Wirklichkeit keinen Zugriff auf irgendein Faktum haben, beunruhigt mich. Ich mag nicht in Metaphern sprechen, aber dieser Krieg ist nur noch metaphorisch zusammenfassbar, deswegen: Dieser Sturm fegt jedes rationale Moment hinweg.

STANDARD: Die beiden offenen Briefe in Deutschland haben Sie sicher gelesen: Einer legt der Ukraine mehr oder weniger die Kapitulation nahe, der andere unterstützt ihre Versorgung mit schweren Waffen. Gibt es da etwas Drittes?

Streeruwitz: Na ja, es ist absolut zu überlegen, wie das Verhalten hier sein kann. Dass man die Ukraine nicht behindert, wenn sie sich verteidigen will, ist schon ein Gedanke, der mir kommt. Bei den Waffen bin ich skeptisch in Bezug auf die Informationen, denn das ist eben das Undemokratische bei Waffenlieferungen, dass sie immer im Geheimen stattfinden. Es ist doch so, dass wir jeder Capacity entkleidet sind, wir haben keine, wir sind ohnmächtig. Es ist ganz sinnlos, so ohne jede glaubwürdige Information. Aber ich möchte, dass alle Gesellschaften die Sache so überstehen, dass wir nicht wieder bei null beginnen müssen.

STANDARD: Das ist ein wichtiger Gedanke im Buch: Der Krieg tradiert Trauma, wir müssen diese Tradition unterbrechen. Ist das nicht in Österreich in Ansätzen gelungen, mit Bildungsexpansion und weniger autoritären Kindheiten?

Streeruwitz: Das ist absolut der Fall. Wir taumeln nicht von einem Krieg in den nächsten, und kein Kaiser sagt, dass wir herumschießen müssen. Von meiner Generation hinunter gibt es eine Kaskade immer größeren Verständnisses für Friedenshandeln.

STANDARD: Wir müssen uns nur vor Charismatikern hüten, schreiben Sie, unsere Regierung sollten ausgeglichene Personen übernehmen. Viele moderne Machthaber machen die Staaten zu Erweiterungen ihrer privaten Obsessionen. Sie deuten an, man müsste deswegen ihr Privatleben offenlegen: die Kinder und Yachten von Putin, Sie erwähnen auch Sebastian Kurz.

Streeruwitz: Wenn Sie die sexuelle Ausrichtung meinen, das wollten wir nicht, dass das als Argument verwendet wird. Aber natürlich ist die Frage, ob jemand aus einer bürgerlichen Partei ein halbwegs bürgerliches Leben wählt oder es nur vorspielt, das sind schon Dinge, die wir erfahren dürften, wenn die offenkundige Korruption mit dem Mitschicken von Dick-Pics verbunden wird, darf gefragt werden. Es geht nicht darum, abwertend über eine Ausrichtung zu sprechen. Im Gegenteil, es wäre schön gewesen, einen schwulen Kanzler zu haben. Alle diese Figuren wie Trump, Johnson, Putin haben Privatleben, die auf Lüge aufgebaut sind und auf Wiederholungstäterschaft. Unsere Leben sind zu kostbar. Wir können uns nicht diesen persönlichen Zufriedenstellungsunternehmungen ausliefern. Die Hilflosigkeit, die da herrscht, ist unerträglich. Ich möchte in Russland und am Amazonas wählen dürfen. Wenn schon Durchsetzungen, dann für etwas Gutes und die Zukunft.

Marlene Streeruwitz: "Handbuch gegen den Krieg". 19,– Euro / 104 Seiten, Bahoe Books, 2022
Cover: bahoe books

STANDARD: Sie würden kriegerische Interventionen für das globale Gute unterstützen?

Streeruwitz: Interventionen am Amazonas für den Regenwald scheinen dringend zu sein. Da würden wir alle gefragt sein, unsere "grünen" Gewohnheiten so zu ändern. Für die Regionen und die Welt werden wir öfter solche Interventionen brauchen. Es gibt nur mehr Kaskaden, auch Kaskaden von Beschränkungen. Ich denke heute an die Weizenspeicher, die wir haben müssen, weil unsere Neutralität uns gebietet, dass wir uns selbst versorgen müssen.

STANDARD: Ist so etwas wie eine konstruktive Staatsgewalt denkbar?

Streeruwitz: Ich würde mir erhoffen, dass es einen Punkt gibt, an dem kein Staat Bürgerinnen und Bürger dazu anhalten kann, andere zu töten. Das ist für mich unerträglich, dass Mord staatlich sanktioniert werden kann. Für mich ist das Ziel ein Staat, der nicht mehr als Mordbube agiert. (Bert Rebhandl, ALBUM, 21.5.2022)