In der Justizanstalt Stein haben sich zuletzt in einem halben Jahr zwei Häftlinge das Leben genommen.

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Am 1. Mai kam es in der Justizanstalt Stein in Krems an der Donau zu einem Suizid. Es war bereits der zweite innerhalb eines halben Jahres. Und auch generell hat sich die Suizidrate in österreichischen Gefängnissen von 2020 auf 2021 beinahe verdoppelt – während sie in der Gesamtgesellschaft laut vorläufigen Zahlen der Statistik Austria im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie um zwölf Prozent zurückgegangen ist.

Die Volksanwaltschaft hat bereits im Herbst bei der Generaldirektion für den Strafvollzug Alarm geschlagen. Seit Februar beschäftigt sich nun eine neue Arbeitsgruppe im Justizministerium mit dem Umgang mit Krisensituationen bei Häftlingen.

15 Selbsttötungen und 31 Versuche gab es in den 28 österreichischen Justizanstalten im letzten Jahr – so viele wie seit dem Jahr 2006 nicht mehr. Damals waren es 16 Suizide. 2020 nahmen sich acht Insassen das Leben, 2019 waren es neun.

Die Zahl der Fälle hat sich also beinahe verdoppelt. "Diese besorgniserregende Entwicklung gab im Spätherbst Anlass zu einem Kontaktgespräch mit der Generaldirektion", heißt es im Jahresbericht der Volksanwaltschaft, der jeder Suizid und jeder Suizidversuch gemeldet werden muss.

"Krisenhafte Situationen"

Ergebnis des Gesprächs ist eine Arbeitsgruppe im Justizministerium, die sich seit Februar mit "Sicherheits- und Betreuungssettings in krisenhaften Situationen" beschäftigt. An den Fällen der letzten Jahre sieht man, dass die meisten Selbsttötungen in der Untersuchungshaft und im sogenannten Maßnahmenvollzug für Rechtsbrecher mit psychischen Erkrankungen stattfinden.

"Krisenhafte Situationen" können aber auch der Zeitpunkt der Einlieferung in ein Gefängnis, die Zeit vor oder nach Gerichtsverhandlungen oder die Unterbringung in einer Sicherheitszelle sein. "Wir geben zum Beispiel Empfehlungen zur Haftraumausstattung oder zur Beschäftigung von Häftlingen in solchen Krisensituationen ab", sagt Peter Kastner von der Volksanwaltschaft, der Teil der Arbeitsgruppe ist. Zu Jahresende soll es einen Abschlussbericht mit konkreten Empfehlungen geben.

Frage nach dem Warum

Auf die Frage, warum die Suizidzahlen unter Gefängnisinsassen zuletzt so stark gestiegen sind, haben Expertinnen und Experten keine eindeutige Antwort. Eine naheliegende Vermutung ist die Pandemie. Häftlinge, die sich mit Corona infiziert hatten oder Kontaktpersonen waren, durften ihre Zelle bis zur Genesung nur zum Duschen und Telefonieren verlassen, Besuche waren teils gar nicht erlaubt und der Kontakt zu Mithäftlingen stark eingeschränkt.

"Es waren allerdings keine Fälle von Suiziden in der Corona-Isolation zu beobachten", sagt Kastner. Auch Thomas Stompe, Psychiater und Oberarzt der Justizanstalt Göllersdorf, sagt, die Belastungen durch die Pandemie hätten sich dort nicht in Form von Selbsttötungen gezeigt.

Patrick Frottier, Psychiater, forensischer Gutachter und ehemaliger ärztlicher und therapeutischer Leiter der Sonderjustizanstalt Wien-Mittersteig, hat aber noch eine andere Theorie: "Wir haben noch immer das Problem, dass die Anzahl psychisch Kranker in Haft stetig zugenommen hat, ohne dass das Ausmaß der psychiatrischen Versorgung dementsprechend angepasst worden wäre." Fünf der 15 Häftlinge, die sich im letzten Jahr das Leben nahmen, waren im Maßnahmenvollzug untergebracht.

Psychiatrische Diagnosen

Frottier ist auch externer Berater der seit 2011 existierenden Fachgruppe für Suizidprävention im Strafvollzug des Justizministeriums. In dieser Funktion wird ihm ebenfalls jeder Suizid gemeldet. Daher weiß er, dass neben den fünf Maßnahmenvollzugshäftlingen vier weitere, die sich 2021 das Leben genommen haben, eine psychiatrische Diagnose hatten.

"Neun Suizidopfer waren also bereits als psychisch krank erkannt. Wenn ich eine Gefahr erkenne, aber nicht reagieren kann, weil ich nicht ausreichend Ressourcen habe, dann ist es ein Problem", sagt Frottier.

Insgesamt sind in Österreich aktuell 7.732 Menschen in Haft, davon 1.426 im Maßnahmenvollzug für Rechtsbrecher mit psychischen Erkrankungen untergebracht. Auf sie alle kommen nach Angaben des Justizministeriums insgesamt 14 Psychiater (Vollzeitäquivalent), 111 Psychologen und 122 Sozialarbeiter. In den forensisch-psychiatrischen Sonderjustizanstalten für den Maßnahmenvollzug ist die Versorgung besser als im normalen Strafvollzug. Psychotherapie wird zu einem großen Teil auch mit externen Therapeuten abgedeckt. (Johannes Pucher, 26.5.2022)