Herr G. saß eineinviertel Jahre in Untersuchungshaft.

Foto: APA / Georg Hochmuth

Der 6. Dezember 2005 war in Wien kein Tag, an dem man gerne die Wohnung verließ. Schneeregen fiel vom Himmel, der Wind sorgte dafür, dass sich die ohnehin niedrige Temperatur noch kälter anfühlte. Die 31-jährige Architektin Elisabeth G. machte sich trotz des unwirtlichen Wetters gemeinsam mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter auf den Weg nach Wien-Donaustadt.

Ihr Traum von einer intakten Familie war zu diesem Zeitpunkt schon geplatzt – im September hatte sie die Scheidung von ihrem um 18 Jahre älteren Ehemann beantragt. Ende November wurden die Modalitäten für die Trennung festgelegt, rechtskräftig sollte die Scheidung im Sommer 2006 werden. Mittlerweile hatte sie für sich und ihre Tochter eine eigene kleine Wohnung gefunden, an diesem Nachmittag wollte sie noch letzte Habseligkeiten aus dem früheren Domizil holen. Das kündigte sie auch ihrem Vater an, mit dem sie um 16.03 Uhr telefonierte. Danach verschwand Elisabeth G. spurlos.

Dreimal untersuchte die Justiz dieses Verschwinden. Stets im Zentrum des Interesses: der Ehemann. Taucher durchsuchten die Alte Donau, Blut- und Leichenspürhunde wurden eingesetzt, der Garten von Herrn G. wurde mit Bodenradar auf Auffälligkeiten durchleuchtet, an zehn Stellen wurde bis zu eineinhalb Meter tief gegraben. Elisabeth G. fand man nicht.

Berechtigte Fragen

Einzig in der Wohnküche entdeckte man einen Blutfleck – dessen Existenz hatte Herr G. aber den Polizisten bereits vorab angekündigt. 2006 und 2007 wurde das Verfahren jeweils eingestellt, bis sich die Cold-Case-Abteilung des Bundeskriminalamtes des Falles annahm. Zeugen wurden neuerlich einvernommen, wieder rückten Hundeführer aus.

Spürhunde, Polizeitaucher, Bodenradar: Seit über 16 Jahren wird versucht,
eine verschwundene 31-Jährige zu finden.
Illustration: Armin Karner

Die grafische Aufarbeitung der Verbindungsdaten der Mobiltelefone von Verschwundener und Ehemann überzeugt die Staatsanwaltschaft Wien und die Haft- und Rechtsschutzrichter schließlich davon, Herrn G. neuerlich in Untersuchungshaft zu nehmen und ihn wegen Mordes anzuklagen. Denn nach dem Telefonat mit ihrem Vater wurde von Elisabeths Handy drei Tage lang nur noch Kontakt mit Herrn G. aufgenommen – und die Geräte waren stets in einem von drei Mobilfunkmasten eingeloggt. Die drei Sender versorgten zwar ein großes Gebiet, in ihrem Schnittpunkt lag aber das Haus des Ehemanns.

G. habe seine Ehefrau "auf bislang unbekannte Weise getötet und an einem bislang unbekannten Ort abgelegt", stand in der Anklage. Schon aus dieser Formulierung wird klar, dass das Verfahren grundsätzliche Fragen aufwirft: Geht es vor Gericht um Gerechtigkeit für das mögliche Opfer, ihre Verwandten?

Um die Beantwortung der Frage, was aus der 2018 auf Betreiben ihrer Familie für tot erklärten Elisabeth G. geworden ist, um Frieden zu finden? Darum, jenseits aller berechtigter Zweifel einen Schuldigen zu verurteilen? Und kann man dafür einen Menschen eineinviertel Jahre lang in Untersuchungshaft stecken?

Belastende Indizien

Ja, befand die Staatsanwältin. Wie die Ermittler des Bundeskriminalamts glaubt auch sie nicht daran, dass eine junge Mutter, die eigentlich auf dem Weg zu einem viertägigen Langlauftraining war, einfach ihr Kind zurücklässt. Herr G. müsse sie am 6. Dezember 2005 zwischen 16.03 Uhr, dem Telefonat mit dem Vater, und 17.43 Uhr, als er in einem Einkaufszentrum Geld abhob, getötet haben, ist die Anklägerin überzeugt.

Der Blutfleck in der Wohnung, der Kauf von Bauplane, Beton und Bitumenanstrich am nächsten Tag, das zweistündige Ausborgen eines Kleintransporters am 9. Dezember, die Standorte der Handys, G.s Desinteresse, sich an der Suche nach Elisabeth zu beteiligen – aus Sicht der Staatsanwältin ist das eine klare Indizienkette, die die Schuld des Pensionisten beweist.

Wie sich aber herausstellt, hat die Polizei, vorsichtig ausgedrückt, unkonventionell ermittelt. Zum Beispiel bei den Zeugeneinvernahmen von Vater, Bruder und Schwester der Verschwundenen: Alle drei wurden im selben Raum befragt und hörten jeweils die Aussagen der anderen. Auch die finanzielle Situation Elisabeths wurde offenbar nicht wirklich hinterfragt.

Laut ihrem Vater habe sie in den drei Monaten vor ihrem Verschwinden kein Gehalt mehr bekommen, die Eltern zahlten ihr die Möbel für die neue Wohnung, die Miete. Am 6. Dezember überwies der Vater noch 450 Euro, damit sie überhaupt auf Urlaub fahren konnte. Erst die Vorsitzende des Geschworenengerichtes kam auf die Idee, einen Sozialversicherungsauszug zu besorgen – ihr Dienstverhältnis endete bereits am 12. Dezember. Warum, bleibt offen.

Widersprüchliche Bilder

Ein eindeutiges Bild können die Zeugen weder von G. noch von Elisabeth zeichnen. Er: Ein manipulativer, dominanter Mann voller Aggressionen, sagen die einen. Andere beschreiben ihn als hilfsbereiten, ruhigen Menschen, als "besten Freund", einen Mann mit Handschlagqualität.

Sie: die lebenslustige, temperamentvolle "wilde Henne". Und gleichzeitig eine verzweifelte Frau, die seit Sommer 2004 wegen psychischer Probleme in Therapie war und Psychopharmaka nahm, die zumindest mit zwei Menschen konkret von Suizid sprach. Und in einem ausgeprägten Konkurrenzkampf mit ihrem Gatten stand – sowohl im Sport als auch bei der Erziehung der Tochter.

Elisabeth war aufgrund ihrer besseren Verdienstmöglichkeiten wieder arbeiten gegangen, Herr G. kümmerte sich um Haushalt und Kind. Auf dem Mutter-Kind-Pass strich er "Mutter" durch und ersetzte es handschriftlich durch "Vater". Die Verschwundene beschwerte sich immer wieder, er wolle ihr die Tochter entfremden, sie dürfe den Nachwuchs nicht einmal wickeln. Einmal habe er ihr das Kind rüde aus dem Arm gerissen, um es ins Bett zu bringen, lautete ihre Version der einzigen bekannten Aggressionshandlung.

Restliche Sachen

Herr G. sagt, seine Nochehefrau sei am 6. Dezember gekommen, um ihre restlichen Sachen zu holen. Dann habe sie beschlossen, stattdessen trainieren zu gehen. Er besuchte mit der Tochter das Einkaufszentrum, gegen 19.30 Uhr traf man sich wieder in der Wohnung. Elisabeth sei verärgert gewesen, da ihre Mitfahrgelegenheit abgesagt habe.

Die Tochter habe lieber beim Vater bleiben wollen, der sie am nächsten Tag ohnehin übernommen hätte. Elisabeth sei erzürnt gegangen und am nächsten Morgen mit einem, von einer unbekannten Person gelenkten, Auto wiedergekommen. Er habe ihr wortlos den Karton mit ihren Habseligkeiten über den Zaun gereicht, sie sei eingestiegen und weggefahren. Das sei das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen habe.

Der Kauf der Baumaterialien? Er sei ein passionierter Handwerker, er habe die Dinge für Ausbesserungsarbeiten in dem Haus gebraucht, in dessen Erdgeschoß er eingemietet war. Die Leihe des Kleintransporters? Er habe alte Heizkörper zum Mistplatz bringen müssen. Der Blutfleck? Elisabeth sei ihr Motorrad auf die Hand gefallen, er habe sie in der Wohnküche verarztet. Und da er nicht besonders gründlich putze, sei die Spur auch Monate später noch nachweisbar gewesen.

Einstimmiger Freispruch

War es Mord? War es Selbstmord? Ist Elisabeth G. ausgestiegen? Hatte sie einen Unfall? Wurde sie entführt? Für die Geschworenen ist nur eines klar: Herr G. hat sie nicht umgebracht.

Nach nicht einmal einer Stunde Beratung sprechen sie ihn einstimmig nicht rechtskräftig frei, er wird aus der Haft entlassen und kann zu seiner Tochter zurückkehren. Von rund 500 Österreicherinnen und Österreichern fehlt derzeit jede Spur. Elisabeth G. ist eine davon. Ihr Schicksal wird wohl für immer ungeklärt bleiben. (Michael Möseneder, 20.5.2022)