Verfassungsrechtler Peter Bußjäger schreibt in seinem Gastkommentar über die rechtlichen Fragen, die sich bei einer Abkehr Österreichs von der Neutralität stellen würden. Und welche gesetzlichen Rahmenbedingungen es für einen Nato-Beitritt bräuchte. Lesen Sie dazu auch Politologe Martin Senns Plädoyer für eine aktive Neutralitätspolitik.
Der rasche Stimmungswandel in den skandinavischen Staaten, was Bündnisfreiheit und Nato-Beitritt betrifft, geht auch an Österreich nicht folgenlos vorüber. Ob heilige Kuh oder Tabuthema: Die Diskussion über die Beibehaltung der Neutralität und einen möglichen Nato-Beitritt wird geführt, ob es die Politik und die Bevölkerung in ihrer Mehrheit nun wünscht oder nicht.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Rechtsfragen zur österreichischen Neutralität immer wieder angesprochen worden. Kurz rekapituliert: Es gilt, Völkerrecht, Unionsrecht und Verfassungsrecht zu unterscheiden. In völkerrechtlicher Hinsicht dürften einer Preisgabe der Neutralität wenige Hindernisse entgegenstehen, dies gilt auch für einen Beitritt zur Nato. In unionsrechtlicher Hinsicht gilt gemäß Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union grundsätzliche Beistandspflicht, die sogenannte "irische Klausel" ermöglicht es allerdings neutralen Staaten, sich auf ihren Status zu berufen. Wie realistisch das sein mag, bleibt dahingestellt. In verfassungsrechtlicher Sicht steht der Abschaffung der Neutralität jedenfalls ihr Rang in der Bundesverfassung entgegen.

Wie könnte daher das Vorhaben, die Neutralität zu beseitigen und der Nato beizutreten, rechtlich umgesetzt werden? Das Bundesverfassungsgesetz (B-VG) vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs bestimmt in Artikel I Absatz 1, dass Österreich "zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes (...) aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität" erklärt. Österreich versichert darin weiter, diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechtzuerhalten und zu verteidigen.
In Absatz 2 wird außerdem bestimmt, dass Österreich "in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen wird".
Volksabstimmung nötig?
Das Neutralitäts-Bundesverfassungsgesetz müsste also weg. Die Aufhebung eines Bundesverfassungsgesetzes ist genauso leicht oder schwierig wie seine Verankerung: Das Bundesverfassungsgesetz zur Aufhebung des Neutralitäts-BVG bedürfte grundsätzlich einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Wenn damit Eingriffe in Landeskompetenzen verbunden sind, wäre darüber hinaus auch eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat erforderlich. Davon kann im Falle der Beseitigung der Neutralität allein keine Rede sein.
Gelegentlich wird ins Spiel gebracht, dass auch eine Volksabstimmung erforderlich wäre. Verfassungsrechtliche Gründe liegen keine vor: Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen sind nur dann erforderlich, wenn damit eine "Gesamtänderung" verwirklicht würde. Das wäre dann der Fall, wenn eines der Bauprinzipien der Bundesverfassung (die Demokratie, der Rechtsstaat, der Bundesstaat, die Republik, die Gewaltenteilung, die Grundrechte) beseitigt oder schwerwiegend beeinträchtigt würde. Eine solche Konstellation ist hier nicht erkennbar. Immerhin wurde die Neutralität auch nicht mit Volksabstimmung eingeführt.
So weit die Realität des Verfassungsrechts. In der politischen Wirklichkeit ist es kaum vorstellbar, dass die Neutralität, die, wie der Innsbrucker Politologe Martin Senn unlängst ausgeführt hat, im Laufe der Zweiten Republik zu einem Identitätsmerkmal wurde, mit dem sich Österreich – "nach den Jahren des Nationalsozialismus und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges – im Inneren identifizieren und nach außen positiv präsentieren konnte", ohne Zustimmung des Bundesvolks beseitigt wird. Rechtlich ist eine "freiwillige" Volksabstimmung kein Problem: Niemand hindert den Nationalrat, ein Gesetz vor seiner Kundmachung einer Volksabstimmung unterziehen zu lassen.
Im "Bündnisfall?
Damit wäre Österreich verfassungsrechtlich zwar nicht mehr neutral, aber noch nicht in der Nato. Der Beitritt zu dieser Organisation wäre ein Staatsvertrag, der der Zustimmung des Nationalrats und vermutlich auch des Bundesrats bedürfen würde. Ohne begleitende bundesverfassungsrechtliche Regelungen ginge es jedoch wohl nicht: Oder könnten die Regelungen in Artikel 80 des Bundesverfassungsgesetzes, dass der Bundespräsident den Oberbefehl über das Bundesheer innehat und die Befehlsgewalt vom zuständigen Bundesminister ausgeübt wird, auch noch im "Bündnisfall" unverändert gelten? Wie ist es um die "Kriegserklärung" bestellt, die der Bundesversammlung vorbehalten ist? Schon gar nicht davon zu reden, dass Nato-Truppen in Österreich stationiert würden und Bundes- und Landesbehörden sie zu unterstützen hätten.
Durchaus möglich, dass zwar nicht die Abschaffung der Neutralität, wohl aber der Nato-Beitritt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung darstellen und einer Volksabstimmung bedürfen würde.
Der Weg zum Abschied von der Neutralität könnte unter verfassungsrechtlichen Aspekten betrachtet recht kurz, jener zur Nato ein längerer sein. Ob die Bevölkerung Österreichs ihn unter den derzeitigen Bedingungen gehen will, ist sowieso fraglich. (Peter Bußjäger, 21.5.2022)