Eine Avantgarde mit Hirn: Seit ziemlich genau 50 Jahren treibt Franz Koglmann, Wiener des Jahrgangs 1947, die Entwicklung der heimischen Jazz-Avantgarde sublim voran: indem er die funkelnden Partikel der "kühlen" Jazz-Tradition prüft, wägt und – nach den Maßgaben des "Third Stream" – sorgfältig miteinander verbindet.
Foto: Heribert CORN

Unter den vielen Krawallbläsern, die das dissonante Klangbild des jüngeren Jazz wesentlich mitbestimmt haben, nimmt Flügelhornist Franz Koglmann eine Sonderstellung ein. In der Ruhe liegt die Kraft dieses an Ellington, am Miles Davis der Birth of the Cool-Phase geschulten Kopfes. Das Öffnen von Überdruckventilen ist gewiss seine geringste Sorge.

Seit ziemlich genau 50 Jahren treibt Kogl-mann, Wiener des Jahrgangs 1947, die Entwicklung der heimischen Jazz-Avantgarde sublim voran: indem er die funkelnden Partikel der "kühlen" Jazz-Tradition prüft, wägt und – nach den Maßgaben des "Third Stream" – sorgfältig miteinander verbindet. In den verschiedensten Besetzungen, ob im "Pipetett", im Trio oder als Impulsgeber größerer Ensembles, hat Koglmann seine Auffassung einer Avantgarde mit Hirn wiederholt bestätigt.

Wunderkammer der Moderne

Erstens: Was man zu sagen hat, kann man geometrisch übersichtlich äußern. Zweitens: Man braucht eine tiefsitzende Melancholie nicht zu leugnen, aber man sollte sich von ihr nicht überwältigen lassen. Koglmann ist (im besten Sinn) ein Bildungsjazzer. Wer seine Platten hört, bemerkt, wie er behutsam das Klangideal Chet Bakers weiterspinnt.

Koglmann-Hörer stoßen früher oder später die Tür zur Wunderkammer der Moderne auf: In ihr wird in den Farben Edward Hoppers gemalt, in Schönberg’schen Zwölftonreihen gedacht, in Nabokov-Romanen geblättert.

Aus Anlass des 75. Geburtstag Koglmanns am Sonntag – drei subjektive Hörtipps:

Thoughts about Duke (aus dem gleichnamigen Album von 1995): Koglmann huldigt Ellington, dem Giganten des Big-Band-Jazz, indem er mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter (zu Basstupfern von Tuba-Spieler Raoul Herget) die aberwitzigsten Intervallsprünge vollführt. Der Altsaxofonist und Tristano-Schüler Lee Konitz gibt dem Wiener die Ehre.

April in Vienna (von A White Line, 1990): Diese Koglmann-Trompetenballade ist ein Beispiel aus dem Lehrbuch entfetteter Melancholie. Ihre Töne rühren nicht zu Tränen, sondern entspringen einem Ethos der Bändigung: Man muss an Schubert denken, zugleich an Saxofonist Paul Desmond. Ein Wohlklangbad für Denker.

Späte Liebe (aus dem Album Don’t Play, Just Be, 2022): din famoses Beispiel für Franz Koglmanns Fähigkeiten als Vokalkomponist. Sopranistin Ursula Fiedler singt mit tänzelnder Ironie Franz-Schuh-Verse. Sie gelten einem Galan, der seiner Herzallerliebsten nichts Besseres anzubieten hat als die eigene körperliche Hinfälligkeit. Schauerlich schön. Hinter diesem Doppelcharakter verbirgt sich das Wesen von Koglmanns verblüffender Kunst. (Ronald Pohl, 22.5.2022)