Die Künstlergruppe Laokoon untersucht Themen und Konflikte, denen wir als Menschen im digitalen Zeitalter ausgeliefert sind: Moritz Riesewieck, Cosima Terrasse
und Hans Block (v. li.).
Foto: Paula Reissig

Vom 2019 verstorbenen Schauspieler Bruno Ganz heute ein Hörspiel neu einsprechen zu lassen wäre technisch möglich. Andy Warhol, seit 35 Jahren tot, kommt in der aktuellen Netflix -Dokuserie The Andy Warhol Diaries bereits "selbst" zu Wort. Dank moderner Sprachsynthesesoftware sind künstlich generierte Stimmen inzwischen keine Science-Fiction mehr. In ihrer ersten Inszenierung für das Burgtheaterpublikum befasst sich die Gruppe Laokoon mit diesem im Wachsen begriffenen Phänomen. Keine Menschenseele feiert am Dienstag im Kasino Uraufführung.

Hier wird die Stimme einer Wiener Theaterberühmtheit, die aus rechtlichen Gründen namentlich nicht genannt werden darf, per KI-Stimme zu uns sprechen. Moritz Riesewieck, Hans Block und Cosima Terrasse geht es aber nicht um Startum und Stimmfetisch. Das Trio hat sich seit seiner Gründung 2015 auf Themen spezialisiert, die mit der rasanten Digitalisierung unseres Lebens einhergehen, und steht damit prototypisch für eine jüngere Generation, die Theater nicht mehr als Abspielstätte von Literatur nützt, sondern als Labor, in dem Erzählungen entlang von Fragestellungen und ausgiebigen Recherchen selbst mitentwickelt werden.

Kein gefürchtetes "Computertheater"

Die digitale Welt dehnt sich weiter aus, und ihr heikles bis teuflisches Wesen schafft Konfliktlagen, derer sich das Theater inhaltlich vermehrt annimmt. Nicht vom gefürchteten "Computertheater" ist hier die Rede, das über Pixel zu uns spricht, sondern von durchaus sinnlichen Aufführungen, die mittels moderner Technik urmenschliche Anliegen verhandeln. Etwa die Sorge darüber, wie die von uns hinterlassenen digitalen Daten auf unser Leben und darüber hinaus rückwirken. Dazu haben Laokoon, die stets unterschiedliche Sparten bedienen – Hörspiel, Film, Buch oder Theater –, das filmische Porträt einer Person erstellt, das einzig auf sämtlichen, aus einem Zeitraum von fünf Jahren stammenden Netzdaten basiert. Made to Measure war im Vorjahr auch beim Ars-Electronica-Festival zu sehen und die Begegnung der realen Person mit dem digital eruierten Äquivalent verblüffend.

KI-basierte Kunst ist längst Teil des Betriebs. Eine Oper kann heutzutage von spezieller Software fertigkomponiert, Literatur zu Ende gedichtet werden. Thomas Melle tourt als Avatar, Abba immerhin als Hologramme über den Globus. In der Reanimation einer Stimme wiederum liegt ein besonderer theatralischer Moment, treten denn hier Körper und Stimme entkoppelt in Erscheinung, und es stellt sich die brisante dramatische Frage, wer zu uns spricht.

Für Keine Menschenseele haben Laokoon über mehrere Monate in den USA, in Kanada, Portugal und Rumänien bei Start-ups recherchiert, die das Versprechen verkaufen, die Stimmen Verstorbener zum Leben zu erwecken. Und hier kommt der auf Hoffnungen angewiesene Durchschnittsmensch ins Spiel, und sein Verhältnis zum Tod im "postkonfessionellen Zeitalter", wie Cosima Terrasse es nennt. Sie lehrt in Wien Social Design und hat zu Begräbniskultur geforscht.

Lückenfüller Technologie

Laokoon: "Wenn Religionen für viele Menschen keine Hoffnung mehr bieten können, entsteht eine Lücke, und die Technologie füllt sie mit weltlichen Heilserzählungen." Nachweisbar ist, dass die künstlich erzeugte Stimme eines geliebten Menschen ebenso hohe Emotionen evoziert wie die echte. In diesem etwas gespenstisch anmutenden Spannungsfeld ist Keine Menschenseele angesiedelt.

Um das österreichische Sprachidiom, für das es vergleichsweise wenige Trainingsdaten gibt, im Fall der oben genannten Schauspielerpersönlichkeit nachbilden zu können, haben Laokoon mit Michael Pucher, Experte für Sprachtechnologie, zusammengearbeitet. Auch diese Stimme könnte Emotionen hervorrufen.

Dass Laokoon nun am Burgtheater arbeiten und nicht am Volkstheater, das sich als Kompetenzzentrum für Digitalität versteht, liegt einerseits an Dramaturg Alexander Kerlin, der die Gruppe aus Dortmund kannte. Zum anderen zeigt es aber auf, dass auch das gesetztere Stadttheater nah an der Gegenwart dran sein kann. (Margarete Affenzeller, 21.5.2022)