Österreich muss sich jetzt der Frage der Solidarität, der Landesverteidigung und der Rolle eines Brückenbauers widmen, sagt Politologe Martin Senn im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Beitrag des Verfassungsrechtlers Peter Bußjäger: Neutralität: Der lange Weg zum kurzen Abschied.

Eine schwedische Soldatin bei einer Geländeübung auf Gotland, nahe der russischen Exklave Kaliningrad.
Foto: AFP / Jonathan Nackstrand

Schweden und Finnland wollen der Nato beitreten, die Schweiz erwärmt sich für eine Annäherung an das Bündnis und trägt Sanktionen gegen Russland mit. Während also in anderen Staaten über den Wert und die Weiterentwicklung der Bündnisfreiheit und Neutralität diskutiert wird, herrscht in Österreich – zumindest in der politischen Arena – Stille. Wenn die Neutralität aber jenseits der Innenpolitik und der Identitätsstiftung wieder einen Mehrwert für Österreichs Außenpolitik und Sicherheitspolitik haben soll, dann muss die Neutralitätspolitik reaktiviert werden.

"Überlebte" Neutralität

Österreichs Neutralität wurde nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt, entwickelte sich also von einer "umfassenden" zu einer "differenziellen" Neutralität. Dieser Wandel ist weder außergewöhnlich – auch die Schweiz hat ihre Neutralität mehrfach angepasst – noch per se problematisch. Problematisch ist vielmehr, dass die Neutralität im Laufe der Zeit depolitisiert wurde. Sie ist also nicht mehr Gegenstand politischer Auseinandersetzung und Gestaltung. Kurz gesagt: Österreichs Neutralität wird nicht belebt und gelebt – sie überlebt durch ihre Rechtsform und den Rückhalt in der Bevölkerung.

Eine Reaktivierung der Neutralitätspolitik müsste sich zuerst dem Spannungsverhältnis zwischen Neutralität und Solidarität widmen. Österreich ist durch seine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen Teil eines Systems kollektiver Sicherheit. Im Fall eines Angriffs dürfte es, auch als neutraler Staat, andere Staaten um Unterstützung bitten und solche erhalten. Durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union könnte sich Österreich zudem auf die Beistandspflicht in Artikel 42/7 des EU-Vertrags berufen.

Solidarität und Schutz

Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn man sich im Ernstfall Solidarität erwartet, muss man auch bereit sein, im Ernstfall Solidarität zu leisten. Zwar zeigt sich Österreich im Rahmen der Vereinten Nationen durchaus solidarisch, indem es seit 1960 zu Friedensmissionen beiträgt, hält sich bei der europäischen Verteidigung aber bedeckt. Dabei müsste sich die Regierung intensiv mit der Frage beschäftigen, welchen Beitrag man im europäischen Beistandsfall nach einem konventionellen Angriff auf einen EU-Staat leisten wollen würde und zu leisten im Stande wäre. Die rechtliche Basis, auch für militärischen Beistand, legt bereits der Artikel 23j des Bundesverfassungsgesetzes.

"Die Politik muss festlegen, welche Aufgaben Österreichs Bundesheer im Verbund mit anderen und allein übernehmen soll."

Dies führt zum zweiten Punkt einer Reaktivierung der Neutralitätspolitik: der Zukunft des Bundesheeres. Die Regierung muss das Bundesheer strukturell und finanziell in eine Richtung entwickeln, die es Österreich erlaubt, sich im Rahmen einer europäischen Verteidigung solidarisch und sinnvoll einzubringen. Gleichzeitig muss das Bundesheer in die Lage versetzt werden, realistischen Bedrohungen für Österreichs Sicherheit entgegentreten zu können. Bevor Ausgaben getätigt werden, muss die Politik also festlegen, welche Aufgaben Österreichs Bundesheer im Verbund mit anderen und allein übernehmen soll.

Dabei muss auch über die Wehrpflicht gesprochen werden, denn die Finanzierung allein wird die Misere der militärischen Landesverteidigung nicht lösen – auch wenn Verteidigungsministerin Klaudia Tanner diesen Eindruck (wohl aus wahltaktischen Erwägungen) erweckt. Will man Wehrpflichtige tatsächlich auf einen Einsatzfall vorbereiten, den Wehrwillen der Bevölkerung stärken und den gesellschaftlichen Stellenwert des Bundesheeres verbessern, wird man nicht umhinkommen, den Wehrdienst zu verlängern und – vor allem – attraktiver zu gestalten. Auch ein Wehrdienst für Frauen sollte im 21. Jahrhundert kein Tabuthema mehr sein.

"Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Neutralität allein den Vermittler macht."

Der dritte Punkt einer Reaktivierung betrifft schließlich die Rolle Österreichs als Brückenbauer. Hier muss man sich zunächst bewusst werden, dass die EU-Mitgliedschaft dieser Rolle Grenzen setzt. In Konflikten, in denen die EU direkt oder indirekt Partei ist, wie etwa im Ukraine-Krieg, kann sich Österreich nicht mehr als Vermittler positionieren.

Jenseits der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ist Österreich durch sein Neutralitätsgesetz aber nach wie vor zur Neutralität verpflichtet. Es ist jedoch ein Irrtum zu glauben, dass die Neutralität allein den Vermittler macht. Sie erlaubt und erleichtert eine Positionierung als solcher. Ob ein neutraler Staat in der Lage ist, diese Rolle auch tatsächlich wahrzunehmen, hängt allerdings von anderen Faktoren ab. Ein Vermittler muss sich das Vertrauen der Konfliktparteien erarbeiten und über Expertise sowie Durchhaltevermögen verfügen. Wenn Österreich die Rolle des Brückenbauers wahrnehmen möchte, wird es mehr Ressourcen in außenpolitische und diplomatische Expertise und Infrastruktur investieren müssen.

Ergebnisoffene Debatte

Eine Repolitisierung der Neutralität könnte einen dritten Weg darstellen, zwischen einer depolitisierten Neutralität einerseits, die Österreich zusehends zu einem Trittbrettfahrer und sicherheitspolitischen Außenseiter degradiert, und einem Beitritt zur Nato andererseits, der politisch schwer durchsetzbar wäre und quer zu Österreichs außenpolitischer Positionierung und völkerrechtlicher Verpflichtung im Bereich der nuklearen Abrüstung liegt. Dennoch müssen auch die Vor- und Nachteile eines Beitritts ergebnisoffen diskutiert werden. Diese Zeilen sind ein Plädoyer dafür, die neue Neutralität jedenfalls nicht vorschnell abzuschreiben. (Martin Senn, 22.5.2022)