Der Leiter des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Misha Glenny.
Foto: Regine Hendrich

Nicht nur mit internationaler Geopolitik kennt er sich aus, sondern auch mit organisiertem Verbrechen und Kriminalität im Netz: Der Brite Misha Glenny, der auch die irische Staatsbürgerschaft besitzt, ist seit Anfang Mai Rektor des sozialwissenschaftlichen Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Er tritt die Nachfolge von Shalini Randeria an, die im Vorjahr als Rektorin zur Central European University (CEU) wechselte.

DER STANDARD sprach mit dem ehemaligen Zentral- und Osteuropakorrespondenten über den Ukraine-Krieg und gefährliche populistische sowie nationalistische Tendenzen, aktuelle Debatten, Neutralität in Europa und die Interaktion zwischen Journalismus und Forschung.

STANDARD: Sie haben sich Ende der 2010er-Jahre für einen Podcast intensiv mit Wladimir Putin beschäftigt. Haben Sie es damals für möglich gehalten, dass Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt?

Glenny: Nur wenige haben das kommen sehen. Ich muss zugeben, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Ich habe den seit 2014 anhaltenden Konflikt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und konnte mir nicht vorstellen, wie Putin einen Vorteil aus dieser Situation ziehen könnte. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass er sich im Grunde genommen etwas vorgemacht hat, zum Beispiel in Bezug auf die Kampfbereitschaft der korrupten russischen Armee, die sich als unfähig erwiesen hat, ein hochmotiviertes Heer wie das ukrainische zu besiegen.

STANDARD: Für wie abgesichert halten Sie Putins Position im Kreml?

Glenny: Das ist schwer zu sagen, wir verfügen lediglich über begrenzte Informationen. Aber es sieht so aus, als könne er sich momentan noch auf eine recht breite Unterstützung der russischen Gesellschaft verlassen. Dann gibt es natürlich auch seinen engsten Kreis, obwohl diese Leute meiner Meinung nach ziemlich unfähig sind. Sie alle leben in der Angst, jederzeit seine Gunst verlieren zu können. Wäre ich an Putins Stelle, würde ich mir Sorgen machen.

"Russland leidet unter einem Populismus, wie ihn der serbische Präsident Milošević entwickelt hat: halb kapitalistisch, halb sozialistisch."

STANDARD: Sie haben sich auch sehr ausführlich mit der internationalen Mafia befasst. Spielen Korruption und mafiöse Strukturen in diesem Krieg eine Rolle?

Glenny: Ich habe keine speziellen Recherchen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine angestellt. Was ich aber über die letzten dreißig Jahre, als Fazit meiner Arbeit am Buch "McMafia", sagen kann, ist, dass die Verflechtung von organisiertem Verbrechen und Politik stetig zugenommen hat. Trump hat nachgewiesene Verbindungen zur Mafia in New Jersey; die Konservative Partei im Vereinigten Königreich hat beträchtliche Summen aus russischen Quellen erhalten, die von den Geheimdiensten als dubios eingestuft wurden. In Russland hat dieses Zusammenwirken seit 1989 tiefe Wurzeln geschlagen und ist für Putins Regime nach wie vor eines der wichtigsten Instrumente der Machterhaltung.

STANDARD: Der Krieg gegen die Ukraine ist nicht der erste nach 1945 auf europäischem Boden. Sie selbst haben bereits über den Jugoslawienkrieg berichtet und geforscht. Was sind die größten Unterschiede und was die Gemeinsamkeiten der beiden Kriege?

Glenny: Es gibt einen Hauptunterschied: Russland besitzt fast die Hälfte der nuklearen Sprengköpfe auf der ganzen Welt. Außerdem ist Russland ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates mit Vetorecht. Ferner produzieren die Ukraine und Russland fast 30 Prozent des Weizens weltweit. Vor diesem Hintergrund ist es schwierig, viele Gemeinsamkeiten zu erkennen. Aus politischer Perspektive können wir jedoch feststellen, dass Russland unter einem politischen Populismus von der Art leidet, wie ihn der serbische Präsident Milošević entwickelt hatte: halb kapitalistisch, halb sozialistisch. Zudem hat Putin einige Eigenschaften, die an Milošević erinnern. Manche davon lassen sich auch bei Trump und Johnson, Erdoğan und Duterte (Präsident der Philippinen, Anm.) feststellen – bei den "Iron Men", wie ich den Politikertypus bezeichnet habe, der diese Art von Populismus fördert. Sie alle sehen in Putin sicherlich ein Vorbild. Sie hätten gerne etwas von seinem Selbstbewusstsein und seiner Fähigkeit, alles zu bestimmen.

"Die Welt hat sich am 24. Februar grundsätzlich verändert, aber wir können Putin nicht die Schuld für alle Probleme Europas geben."

STANDARD: Sie haben kürzlich in einem "Kommentar der anderen" im STANDARD auch angesichts des Krieges vor allem den Populismus und Autoritarismus im Westen kritisiert. Warum?

Glenny: Die Welt hat sich am 24. Februar grundlegend verändert. Das war eine große Zäsur. Aber nur weil Putin sich zu diesem Schritt entschlossen hat, heißt das nicht, dass wir ihm die Schuld für alle Probleme Europas zuschreiben können. Natürlich müssen wir die Invasion auf das Schärfste verurteilen und ihre Konsequenzen in einer globalisierten Welt schnell abschätzen. Aber wir sollten auch versuchen zu verstehen, was in anderen Ländern vor sich gegangen ist. Beispielsweise war der Brexit für mein eigenes Land eine Katastrophe. So weit kam es aufgrund von Johnsons persönlichem Ehrgeiz und dem erheblichen Einfluss der Medien auf die Wählerschaft. 80 Prozent der überregionalen Zeitungen Großbritanniens unterstützten den Brexit. Putin war von dem Ergebnis angetan, weil es die westliche Einheit zerstörte. Aber dafür verantwortlich war er nicht.

STANDARD: Im Kampf gegen Russland wird in der Ukraine Nationalismus zu einer "Kraft der Befreiung", wie Masha Gessen kürzlich meinte. Gleichzeitig birgt dies langfristig die Gefahr aggressiv-nationalistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen. Wie schätzen Sie das ein?

Glenny: Das ist eine komplizierte Sache. Einer der größten Fehler Putins war seine Behauptung, zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine einmarschiert zu sein, während er kurz darauf unzählige Raketen auf die russischsprachige Bevölkerung von Charkiw, Mariupol und anderen Städten abschoss und sie en masse tötete. Diese Vorgänge haben die beiden Sprachgruppen zweifellos näher zusammengebracht. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich diese Annäherung im Laufe des Krieges noch vertiefen wird. Ich hoffe, dass dies als Grundlage für eine positive nationale Identität der Ukrainer:innen dienen wird. Die Herausbildung eines einflussreichen, aggressiven Nationalismus würde den Zusammenhalt im Land infrage stellen.

"Die Neutralität ist Österreich gut bekommen, und im Gegensatz zu Finnland und Schweden fühlt es sich nicht unmittelbar bedroht."

STANDARD: Wie sehen Sie – quasi als Beobachter von außen – die deutsche Intellektuellendebatte rund um Waffenlieferungen?

Glenny: Das ist eine sehr deutsche Problematik, hinter der sich eine Diskussion über die deutsche Seele verbirgt, wie sie sich über die letzten siebzig Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Im Übrigen: Während die Debatte in Österreich sehr präsent ist, stieß sie in den britischen Medien kaum auf Beachtung. Ich kann mich zu den beiden Briefen weder in die eine noch in die andere Richtung äußern, obwohl ich es interessant finde, die Debatte zu verfolgen.

STANDARD: Für Österreich sieht die Lage aufgrund der Neutralitätsposition etwas anders aus. Ist diese Position heute noch haltbar?

Glenny: Der Staatsvertrag hat Österreich einen Sonderstatus verliehen, den das Land seither sinnvoll nutzt – als Ort, an dem diskutiert und verhandelt wird. Die Neutralitätsdebatte ist durch Finnlands und Schwedens Antrag auf Nato-Mitgliedschaft erneut entflammt. Aus politischer Perspektive ist das ein ziemliches Erdbeben. Finnland war seit dem Winterkrieg 1939–40 immer sehr vorsichtig gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise Russland. Jetzt hat sich diese Vorsicht zu Furcht gesteigert. Überrascht war ich eher von der Entscheidung Schwedens, da es sich traditionell sicherer fühlt als sein Nachbar im Osten. Die Debatte über den Nato-Beitritt Österreichs ist schwieriger einzuordnen. Die Neutralität ist Österreich gut bekommen, und im Gegensatz zu Finnland und Schweden fühlt es sich nicht unmittelbar bedroht.

STANDARD: Trotzdem haben sich andere Länder besser als Vermittler positioniert, etwa die Türkei als Schauplatz für Gespräche.

Glenny: Das ist richtig, aber das liegt einfach daran, dass Erdoğan in den letzten Jahren sowohl mit Kiew als auch mit Moskau auf politischer Ebene wesentlich mehr zu tun hatte als Österreich. Der türkische Präsident hat Kontakte – er und Putin kennen sich gut. Erdoğans Einfluss in dieser Sache ist größer als der vieler anderer. Ich würde jedoch die Bereitschaft oder das Vermögen, Friedensverhandlungen zu führen, nicht als Konkurrenz denken.

STANDARD: Wie schätzen Sie die langfristigen geopolitischen Folgen des Krieges ein?

Glenny: Der Krieg stellt eine Bedrohung für die Weltordnung dar, die schon davor ziemlich wackelig war. Hinter all dem steckt die Dynamik eines möglichen Konflikts zwischen China und den USA. Viel hängt von der langfristigen Reaktion Chinas auf den Ukraine-Konflikt ab. Ehrlich gesagt, ich bin pessimistisch. Aber solange wir die Energie dafür aufbringen, müssen wir nach Lösungen und Wegen aus der Krise suchen – das IWM kann dabei zumindest ein intellektuelles Forum bieten zur Erörterung und Empfehlung von Lösungsansätzen.

"Wenn Journalist:innen Forschende ignorieren, entgeht ihnen oft faszinierendes Material. Wenn Forschende Journalist:innen ignorieren, entgeht ihnen die Gelegenheit, Ideen und Diskurse an ein größeres Publikum heranzutragen."

STANDARD: Was hat Sie dazu bewogen, sich für das Rektorenamt des IWM zu bewerben?

Glenny: Ich kenne das Institut seit 1986, als ich für britische Zeitungen in Wien tätig war. Seitdem verfolge ich seine Arbeit und wurde 2017 selbst IWM-Fellow. Die Idee, nach fast dreißig Jahren nach Wien zurückzukehren, hat mich gereizt – vor allem seit dem Brexit, den ich als sehr deprimierend empfand. Ich wollte mich sowohl emotional als auch politisch stärker in die europäischen Debatten zur Frage einbringen – ich bin auch irischer Staatsbürger und bleibe daher EU-Mitglied –, wie Europa die immensen globalen Herausforderungen, vor denen es steht, bewältigen kann.

STANDARD: Ihre Vorgängerin, Shalini Randeria, hat das Institut, das ursprünglich zur Förderung der Verständigung zwischen Ost und West gegründet worden war, der Nord-Süd-Thematik geöffnet und noch internationaler gemacht. Was sind Ihre Pläne für das IWM?

Glenny: Mein Hauptziel in den ersten drei Monaten ist, alle Menschen, die am Institut arbeiten, besser kennenzulernen. Meine erste Aufgabe: zuhören und lernen. Natürlich ändern sich die Zeiten, und alle Institute müssen sich verändern und weiterentwickeln, um mit dem Wandel Schritt zu halten. Wir müssen uns mit digitalen Technologien auseinandersetzen, weil diese inzwischen einen eminenten Einfluss auf alle Aspekte unseres Lebens haben. Tut man das nicht, läuft man Gefahr, unbedeutend zu werden. Ein relativ neues Programm am IWM, das wir unter anderem gemeinsam mit der Technischen Universität Wien entwickeln wollen, befasst sich mit digitalem Humanismus. Ich habe viel über Cybersicherheit und -kriminalität und die Interaktion zwischen Gesellschaft und Technologie geschrieben, und das ist etwas, was ich in die Diskussion einbringen kann. Das heißt aber nicht, dass wir das, was Shalini Randeria und IWM-Gründer Krzysztof Michalski so mühsam aufgebaut haben, über Bord werfen werden. Es wird immer ausgesprochen wertvoll bleiben, in Erfahrung zu bringen, wie andere Teile der Welt Europa wahrnehmen, anstatt es nur aus unserer eigenen europäischen Perspektive zu sehen.

STANDARD: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Geistes- beziehungsweise Sozialwissenschaften und Journalismus – als jemand, der beide Felder von innen kennt?

Glenny: Das Internet hat den Journalismus grundlegend verändert. Es ist heute viel schwieriger, in diesem Feld finanziell zu bestehen. Zudem gibt es die Konkurrenz durch die sozialen Medien, ganz zu schweigen von der Verbreitung von Fake News. Das IWM ist ein Ort, an dem wir diesen Herausforderungen durch Forschung und Austausch zwischen herausragenden Journalist:innen und Wissenschafter:innen begegnen können. Wenn Journalist:innen Forschende ignorieren, entgeht ihnen oft faszinierendes Material. Wenn Forschende Journalist:innen ignorieren, entgeht ihnen die Gelegenheit, Ideen und Diskurse an ein größeres Publikum heranzutragen. (INTERVIEW: Julia Sica, 21.5.2022)