Mehrere Punkte auf der Erde kommen als Referenz für ein neues Zeitalter infrage – auch Wien.
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Es gibt unterschiedliche Ideen für Namen, die die aktuelle Epoche bezeichnen: vom Kapitalozän, das den Fokus auf die Zerstörung von Ökosystemen zugunsten von Kapitalinteressen legt, bis hin zum Chthuluzän (sic), dessen Konzept von fiktionalen Tentakelwesen inspiriert ist. Der bekannteste und etablierteste Name für das Zeitalter der Veränderungen, die Menschen am Planeten Erde durchführen, ist allerdings das Anthropozän – nach dem altgriechischen Wort für Mensch, "ánthropos". Gesellschaften haben beispielsweise durch die Erfindung und weltweite Verteilung von Plastik, aber auch durch die Veränderung von Böden- und Atmosphärenzusammensetzung – unter anderem durch Atombomben und anderen Emissionen – langfristige Spuren hinterlassen.

Ob rückwirkend ein neues Zeitalter ausgerufen wird und woran man es genau festmacht, sorgt unter Fachleuten seit Jahren für Diskussionsstoff. Diese Woche tagte etwa in Berlin eine Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS), die einen Ort auswählen soll, der die erdverändernde Wirkung des Menschen am besten widerspiegelt. Zur Diskussion stehen zwölf Vorschläge für einen solchen global gültigen Referenzpunkt. Einer davon ist Wien.

Die Auswahl der "goldenen Spitze"

Dass das Zeitalter des Holozäns, das vor etwa 12.000 Jahren begann, bereits beendet sein könnte, regten unter anderem der niederländische Atmosphärenforscher und Nobelpreisträger Paul Crutzen und der US-Biologe Eugene Stoermer an, die 2000 den Begriff Anthropozän prägten. Auch in Wien nahm man sich der Analyse des geologischen Faktors Mensch an: 2009 gründete die ICS eine Arbeitsgruppe, der unter anderem der Geologe Michael Wagreich von der Universität Wien angehört. Die Fachleute sollen beurteilen, ob der Vorschlag wissenschaftlich Sinn ergibt und wann das neue Erdzeitalter beginnen soll.

Eine offizielle geologische Definition gibt es bisher noch nicht, auch wenn Expertinnen und Experten bereits 2016 auf dem Internationalen Geologischen Kongress in Kapstadt dafür plädierten, das Holozän Mitte des 20. Jahrhunderts enden zu lassen und den Terminus "Anthropozän" in die geologische Zeitskala zu übernehmen. Erforderlich für eine genaue Definition ist unter anderem ein "golden spike", wie es im Englischen heißt: ein global gültiger Referenzpunkt, an dem sich am besten der menschliche Einfluss an den Gesteinsschichten ablesen lässt. Solche Marker können etwa hohe Anteile von Plutonium und anderen Radionukliden aus Atombombentests, Rußpartikel aus Industrieemissionen, Ablagerungen von Mikroplastik oder Veränderungen der Kohlenstoff- und Stickstoffchemie durch Treibhausgasemissionen sein.

Anthropozäne Wellen

Bei dem Treffen der Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG) in Berlin präsentierten nun verschiedene Teams die Argumente für ihren jeweiligen Standortvorschlag. Dann sollen mehrmonatige Beratungen beginnen und die Auswahl bis Dezember bekannt gegeben werden, sollten sich 60 Prozent der AWG-Mitglieder auf einen Standort einigen können. Wenn das der Fall ist, muss der Vorschlag noch durch verschiedene Gremien kommen, bis er an die International Union of Geological Sciences weitergeleitet wird. Sie trifft die endgültige Entscheidung.

Aussichtsreiche Kandidaten für den "golden spike" des Anthropozäns sind etwa einige Seen, in deren Ablagerungen sich die menschlichen Aktivitäten gut ablesen lassen, schrieb der Wissenschaftsjournalist Paul Voosen im Fachmagazin "Science". So finden sich etwa der Crawford Lake in der kanadischen Provinz Ontario oder der Sihailongwan-See im Nordosten Chinas unter den Vorschlägen. Weil Meere ausgezeichnete Sammelbecken globaler Signale sind, befinden sich auch Standorte mit Meeressedimenten auf der Kandidatenliste, etwa aus der Beppu-Bucht der japanischen Insel Kyushu oder dem Gotlandbecken in der Ostsee.

Karlsplatz als Bezugspunkt

Für Luftverschmutzung sollen wiederum die Torfschichten des Sniezka-Moor in Polen ein passendes Archiv sein, weil dieses nur von Regen gespeist wird. Weitere Kandidaten sind Höhlenablagerungen in Italien, das antarktische Eisschild sowie Korallenriffe im Golf von Mexiko und Australien. Und schließlich findet sich der Wiener Stadtboden auf der Liste. Michael Wagreich vom Institut für Geologie der Universität Wien untersucht schon seit längerem die "anthropozänen Wellen", die sich im Wiener Untergrund abbilden.

Der Wissenschafter stellte in Berlin Proben vor, die an der Baustelle für die Neugestaltung des Wien Museums am Karlsplatz gemeinsam mit der Stadtarchäologie genommen wurden. Sie würden das schnelle Anwachsen der menschengemachten Ablagerungen innerhalb einer Stadt zeigen, "und meines Wissens konnten erstmals in Stadtsedimenten Radionuklide wie Plutonium 239 und 240 von den atmosphärischen Atombombentests zwischen 1950 und 1964 nachgewiesen werden", sagt Wagreich.

Bei Grabungen am Karlsplatz um das Wien Museum wurden Bodenproben genommen, die als städtische Referenzen bei der Definition des Anthropozäns dienen könnten.
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Weil die Abfolge der Schichten in Wien allerdings zu gestört durch vielfältige menschliche Aktivitäten und nicht genau auf ein Jahr zeitlich einstufbar ist, hält Wagreich die Chance, dass Wien zum global gültigen "golden spike" wird, für gering. "Es ist ein zusätzlicher Punkt zum Vergleich mit den anderen Referenzpunkten – der einzige, der innerhalb einer Stadt liegt und deshalb ein weiteres Signal für die globale Verbreitung und die Umweltänderungen im Anthropozän ist." (red, APA, 22.5.2022)