Riccardo Muti, hier ano 2018, wurde vom Publikum gefeiert.

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James McNeill Whistler betitelte ein Gemälde der Westminster Bridge in beinahe monochromer Farbgebung als Nocturne, Grey and Gold. Whistler war es auch, der Claude Debussy zu den Trois Nocturnes für Frauenchor und Orchester, die ursprünglich Trois scènes de crépuscule ("Drei Szenen in der Dämmerung") hießen, inspirierte.

Wie kein anderer vermochte es Debussy, die orchestralen Klänge in unendliche Farben und Stimmungen zu tauchen. In perfektem Zusammenspiel ließen die Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti in den Nuages zunächst graue Wolken über den Abendhimmel ziehen – nur gelegentlich blitzte etwas Licht durch –, ehe Musiker und Dirigent den Goldenen Saal im zweiten Stück, den Fêtes, in ein pulsierendes nächtliches Jahrmarkttreiben mit Pauken, Militärtrommel, Bässen und gestopften Trompeten verwandelten.

Von hypnotischem Sog waren schließlich die lockenden Gesänge der Sirenen: In wortlosen Arabesken beschwören das Orchester und der Frauenchor des Wiener Singvereins in scheinbar endlosem Rhythmus die verführerische Kraft des Meeres.

Das ideale Orchester

"Unübertroffen" nannte Hector Berlioz in seinen Memoiren die Wiener Philharmoniker, die er nicht nur im Konzert erlebt, sondern auch selbst dirigiert hatte. Er attestierte ihnen u. a. "Sicherheit, Feuer, außerordentliche Technik und einen ausgezeichneten Klang". Das ideale Orchester also, um seine Symphonie fantastique zu spielen, die im Musikverein als fantastischer Ritt zwischen französischer Raffinesse und Walzerfeuerwerk, Ekstatik und Gregorianik, Bombast und Apokalypse erklingt.

Wieder erweisen sich die Philharmoniker mit ihrem satten, vollen Streicherklang sowie dem großartigen Blech und Schlagwerk als Meister des Atmosphärischen. Es gibt rasenden Applaus für das Orchester und Maestro Muti, den das Publikum zum Auftakt seiner Zeit als "Artist in Residence" im Musikverein mit minutenlangen Standing Ovations beehrte. (Miriam Damev, 23.5.2022)