Der Tod der prominenten Journalistin Shirin Abu Akleh wirft viele Fragen auf.

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Vor knapp zwei Wochen starb die Journalistin Shirin Abu Akleh während eines Arbeitseinsatzes in Jenin im Westjordanland. Die prominente Reporterin des TV-Senders Al-Jazeera sollte über einen Antiterroreinsatz der israelischen Armee berichten und wurde von einer Kugel eines Scharfschützen tödlich verletzt. Die 51-Jährige trug eine kugelsichere Weste und einen Stahlhelm – doch der Schuss, der Abu Akleh das Leben kostete, traf sie ins Gesicht.

Anwesende Journalisten gaben an, dass es israelische Soldaten gewesen sein müssen, die Abu Akleh töteten. Israel zufolge kann man nicht ausschließen, dass die Armee die Verantwortung trägt, ein Strafverfahren werde man aber nicht einleiten. Man sehe keinen Verdacht auf eine strafbare Handlung. Anders gesagt: Der Tod der berühmten Journalistin, deren Begräbnisfeiern an die Trauerzeremonie für Yassir Arafat heranreichten, wird als simpler Kollateralschaden betrachtet.

Deutliche Unterschiede

Dieser Umgang ist symptomatisch. In den Augen vieler palästinensischer Journalisten zeigt er einmal mehr, dass es in Israel zwei Klassen von Journalisten gibt: jene mit palästinensischen Wurzeln – und alle anderen. Palästinensische Journalistinnen sind ungleich öfter Opfer von Polizeigewalt als ihre israelischen und internationalen Kollegen. Obwohl sie deutlich als Pressevertreter markiert sind, werden sie verprügelt oder mit Gummipatronen beschossen, als wären sie Terroristinnen.

Das höhere Risiko, dem sie ausgesetzt sind, ist zwar auch darin begründet, dass es meistens sie sind, die von Hotspots der Gewalt berichten. Den Sicherheitskräften ist aber wohl auch bewusst, dass eine Platzwunde am Schädel eines deutschen oder französischen Korrespondenten oder einer israelischen Journalistin für mehr mediales Aufsehen sorgen würde – und auch für mehr politischen Druck. Palästinenser in Ostjerusalem sind überwiegend keine Staatsbürger Israels. Sie sind der Polizei zwar unterworfen, der Polizeiminister ist ihnen im demokratischen Sinne aber nicht verpflichtet.

Von Diskriminierung berichten aber auch israelische Araber. Yanal Jabareen ist ein junger Journalist aus der israelisch-arabischen Stadt Umm El-Fahm im Norden des Landes, er schreibt für die angesehene Haaretz. Jabareen sagt, dass israelische Araber und Palästinenser auf Reportageeinsätzen nicht nur von der Polizei schlechter behandelt, sondern auch strukturell von den Behörden benachteiligt würden. "Es ist für uns viel schwieriger, einen offiziellen Presseausweis zu erhalten", sagt Jabareen zum STANDARD.

Zunächst Palästinenser

Vor genau einem Jahr wurde er im Zuge eines Berichtes über eine Demonstration von einer Blendgranate am Bein getroffen, abgefeuert von der israelischen Polizei. "Sie machen bei uns keinen Unterschied zwischen Journalisten und Aktivisten, für sie bin ich zuerst einmal Palästinenser."

Unter den massivsten Einschränkungen leiden palästinensische Journalisten im Gazastreifen. Sie müssten jedes Mal, wenn sie für eine Recherche nach Jerusalem oder auch nur ins Grenzgebiet im Süden Israels fahren wollen, um Erlaubnis ansuchen, die aber oft nicht erteilt werde, erzählt Rushdi Abualouf, BBC-Chef im Gazastreifen, im Gespräch mit dem STANDARD. Abualouf wartet seit einem Monat auf eine Einreiseerlaubnis für sich und sein sechsköpfiges Team, bislang vergeblich. Obwohl er seit mehr als 20 Jahren für die britische BBC berichte, stehe er für die Israelis unter dem Generalverdacht, antiisraelische Propaganda zu verbreiten. Das sei paradox, findet Abualouf: "Wenn ihr wollt, dass ich ausgewogen berichte, warum lasst ihr mich dann nicht die andere Seite sehen?" Unzählige Male habe er in die israelische Stadt Ashkelon fahren wollen, um darüber zu berichten, welchen Terror Hamas-Raketen dort verbreiten. "Aber Israel lässt mich nicht."

Frage nach unabhängiger Berichterstattung

Nach dem Tod von Shirin Abu Akleh stellt sich die Frage, wer es noch wagen wird, von Einsätzen der israelischen Armee in den besetzten Palästinensergebieten zu berichten, wenn nicht einmal mehr die beste Schutzausrüstung hilft. Es werden dann die Handyvideos der palästinensischen Militanten sein, die auf Social Media geteilt werden – und im Kontrast dazu die offiziellen Aufnahmen der israelischen Armee. Die Öffentlichkeit wird zum Spielball der Propagandafronten.

Die schockierenden Bilder vom Begräbnis von Abu Akleh, bei dem israelische Polizisten auf wehrlose Sargträger einschlugen, sorgten für Entsetzen. Es ist palästinensischen Kameraleuten zu verdanken, dass diese Szenen dokumentiert wurden. Zu ihrem Schutz und ihrer Anerkennung würde eine unabhängige Untersuchung rund um den Tod von Shirin Abu Akleh beitragen – wie es nun auch Israels langjährige Verbündete, die USA, fordern. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 23.5.2022)