Weltweit kommt es immer wieder zu Protesten gegen massive Menschenrechtsverstöße im Ukraine-Krieg. Hier wird in Paris im Rahmen einer Aktion gegen Kriegsverbrechen demonstriert.

Foto: Vincent Koebel

Die Kharkiv Human Rights Protection Group (KHRPG) ist eine der ältesten und renommiertesten ukrainischen Menschenrechtsorganisationen. Sie hat gemeinsame Wurzeln mit der angesehenen, noch zu Sowjetzeiten gegründeten Organisation Memorial. Bis vor dem Krieg hatte die KHRPG ihren Sitz in Charkiv. Seit Beginn der Invasion sind die Mitarbeitenden über die ganze Ukraine verteilt. KHRPG-Sprecher Denis Volokha lebt aktuell in der Westukraine.

STANDARD: Sind systematische Menschenrechtsarbeit und die Aufarbeitung des Geschehenen in der Ukraine aktuell überhaupt schon möglich?

Volokha: Die meisten Menschenrechtsfragen in der Ukraine konzentrieren sich derzeit auf Kriegsverbrechen und das Thema Völkermord. In unserer Datenbank befinden sich derzeit mehr als 5000 Fälle. Viele Organisationen und Regierungsbehörden tun dasselbe und dokumentieren diese Verbrechen. Wir haben 25 Arten von Menschenrechtsverstößen ausgemacht, die in der Ukraine von russischen Streitkräften begangen wurden. Aber wenn es um allgemeine Menschenrechtsfragen geht, also Themen, mit denen wir schon in friedlichen oder friedlicheren Zeiten konfrontiert waren, so ist das wirklich ein Problem. Es ist sehr schwer, solche Fälle derzeit zu untersuchen.

STANDARD: Was geschieht in diesem toten Winkel?

Volokha: Das ist schwer zu sagen. Die Zahl der von der ukrainischen Justiz verfolgten Straftaten steigt, und das ist besorgniserregend. Allein in der Region Charkiw werden 400 Fälle von Hochverrat verfolgt. Dies ist eine offizielle Zahl. Es gibt sicher auch viele echte Fälle, wir befinden uns im Kriegszustand. Aber wir wissen es nicht, weil diese Strafverfahren nicht unter normalen Bedingungen ablaufen. Die Regierungsbehörden sind derzeit auch nicht sehr schnell darin, uns Informationen über diese Rechtsfälle zu liefern. Es ist also schwer für uns, Details zu diesen Verfahren herauszufinden. Wir können demnach nicht sagen, ob es Missbrauch gibt.

STANDARD: Sind die ukrainischen Behörden dem Volumen an Fällen gewachsen?

Volokha: Wenn es etwa um Mariupol geht, so gibt es weltweit wohl keine Ermittlungsbehörde, die die Menge an Fällen dort bearbeiten könnte. Schwer zu sagen, ob die Regierung damit umgehen könnte. Aber es gibt viele Akteure, die auf demselben Gebiet arbeiten. Bellingcat macht das Gleiche wie wir, aber mit einem anderen Blickwinkel. Das gesamte System der Strafverfolgung hat sich in einer Entwicklungsphase befunden, und es gab Versuche, es zu verbessern. Während des Krieges ist das aber unmöglich. Viele Dinge sind noch nicht digitalisiert. Es gibt eine Menge Papierkram. Viel Bürokratie. Das ist eine große Belastung für die Beweisführung.

STANDARD: Was weiß man über die Deportationen nach Russland?

Volokha: Dies ist unsere größte Sorge. Die erzwungene Verbringung von Menschen ist ein Kriegsverbrechen. Es ist aber schwer zu sagen, wie groß das Problem ist. Es gibt Berichte, wonach es in Russland 68 Lager gibt, in denen Ukrainer festgehalten werden. Demnach sollen bis zu 7000 Ukrainer in diesen Lagern festgehalten werden. Und dann sind da die Filtrationslager in der Ukraine. Männer werden zum Teil seit Monaten in diesen Lagern festgehalten, obwohl sie das Filtrationsverfahren (Prüfung, ob Verbindung zu ukrainischer Regierung oder Armee besteht, Anm.) bestanden haben.

Aber man lässt sie nicht weg. Die Russen versuchen nicht nur, die Menschen davon zu überzeugen, nach Russland zu gehen, sie versuchen auch, sie zu lenken oder sie zu verwirren. Menschen aus Mariupol wurde etwa gesagt, dass Kiew gefallen sei und es die Ukraine nicht mehr gebe. Laut der ukrainischen Ombudsfrau Lyudmyla Denisowa wurden mehr als eine Million Menschen nach Russland deportiert. Diese Zahl erscheint uns zu hoch. Dass sehr viele Menschen aber tatsächlich deportiert wurden, ist gesichert.

STANDARD: Sind das ethnische Säuberungen? Ist das Genozid?

Volokha: Es ist Genozid. Das ist unser Standpunkt. Und dieses Vorgehen wird auch als Völkermord anerkannt werden. Wie sonst kann man zum Beispiel solche Maßnahmen beschreiben: die Vernichtung ukrainischer Bücher, der gezielte Beschuss von Museen, das Abändern von Lehrplänen. In Charkiw haben die Russen das Museum für den ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda angegriffen. Das war kein zufälliger Beschuss. Auch der Angriff auf die jüdische Gedenkstätte in Charkiw nicht. Auch die Hinrichtungen in Butscha und anderen Regionen waren kein Unfall. Wenn Menschen ukrainische Symbole trugen, ukrainische Tattoos hatten, wurden sie von Russen getötet oder gefoltert.

Denis Volokha ist Sprecher der Kharkiv Human Rights Protection Group.
Foto: Privat

STANDARD: Wie ist die Lage der Kriegsgefangenen?

Volokha: Wir versuchen, Orte zu finden, an denen Gefangene untergebracht sind. Das Gefängnissystem war aber auch schon in friedlichen Zeiten nicht perfekt, und jetzt ist es fast unmöglich, da hineinzukommen. Was wir bisher aber gesehen haben, ist, dass es auf ukrainischer Seite und bei russischen Soldaten, die in Gefangenschaft geraten sind, kaum Probleme und Verstöße gibt. Einige Soldaten sagten sogar, sie würden besser behandelt als in der russischen Armee. Über ukrainische Soldaten, die von Russland gefangen genommen wurden, gibt es freilich keine Informationen. Aber einige Soldaten, die zurückgetauscht wurden, berichteten, dass sie in Gefangenschaft gefoltert wurden. (Stefan Schocher, 23.5.2022)