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Damit autonom fahrende Autos ihre Umgebung erkennen können, müssen die Systeme vorab mit Daten gefüttert werden.

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Künstliche Intelligenz (KI) ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Virtuelle Assistenten wie Siri und Alexa sagen das Wetter an. Navigations-Apps suchen nach der optimalen Route. Damit uns KI-Systeme im Alltag assistieren können, müssen sie mit riesigen Datenmengen gefüttert werden. Wie bei einem Kind muss man einem Machine-Learning-Algorithmus beibringen: Das ist ein Sonnenuntergang, das ist ein Baum, das ist ein Auto. Allein, eine Maschine braucht viel mehr Anschauungsmaterial als ein Mensch. Daher erfordert dieses Datenlabeling noch immer jede Menge Manpower.

Techkonzerne wie Google, Tesla oder Amazon sourcen das Training ihrer datenhungrigen KIs an Niedriglohnländer wie Venezuela, Kenia oder Indien aus: Sogenannte Micro- bzw. Crowdworker transkribieren Audiodateien, werten Bilddaten aus oder entziffern Texte gescannter Bücher.

In Venezuela arbeitet eine ganze Armee von hunderttausenden Microworkern, um in Videoaufnahmen Fahrbahnmarkierungen, Verkehrsschilder oder Fußgänger zu kennzeichnen. Die Fahrcomputer selbstfahrender Autos brauchen diese annotierten Daten, damit sie Hindernisse erkennen und nicht die Überholspur mit dem Standstreifen verwechseln. Daten sind der Rohstoff für automatisiertes Fahren – und genauso wichtig wie Chips oder Kabelbäume. Frame für Frame werden die Videos zerlegt und kategorisiert. Eine extrem aufwendige und zeitintensive Arbeit: Um eine Stunde Videomaterial zu annotieren, benötigt man im Schnitt 800 Arbeitsstunden.

Geisterarbeit

Zwar gibt es mittlerweile automatisierte Annotationstechniken. Doch der Mensch ist immer noch die billigere Sortiermaschine. Früher sagte man Humankapital, heute nennt man es "Humans as a Service" – "menschliche Hirnleistung wird hier wie Prozessorleistung als technische Dienstleistung vermietet", schreibt der Wissenschafter Florian Alexander Schmidt in seiner Studie "Crowdproduktion von Trainingsdaten", die 2019 bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erschienen ist.

Der Bedarf an diesen menschlichen Prozessoren ist in einer arbeitsteiligen, datengetriebenen Weltwirtschaft riesig. In der Ukraine labelten sogenannte "data operators" zeitweise Videostreams von Amazons Überwachungskamera Ring. In finnischen Gefängnissen klassifizieren Häftlinge Textdateien. Und in Kolumbien steuern Studenten für zwei Dollar die Stunde Lieferroboter auf dem Campus der University of California. Geisterarbeit nennen Mary L. Gray und Siddharth Suri diese Arbeitsform in ihrem Buch "Ghost Work".

Niedrige Löhne

Wie sicher ein Roboterauto über die Straße rollt, hängt auch davon ab, wie präzise die Daten gelabelt werden. Doch dafür, dass diese Arbeiter einen wichtigen Beitrag für die Verkehrssicherheit leisten, erhalten sie einen mickrigen Lohn: Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bekommen Microworker im Durchschnitt vier Dollar die Stunde – und auch nur dann, wenn sie Aufträge haben. Die digitalen Tagelöhner sind unterbezahlt, unter- oder gar nicht versichert und gewerkschaftlich nicht organisiert.

Der britische Autor Phil Jones kritisiert in seinem Buch "Work Without the Worker", dass die Plattformökonomie Menschen im Globalen Süden für ihre datenhungrigen Maschinen ausbeutet. Die Techkonzerne könnten Arbeit in Mikroaufgaben zerteilen und durch eine riesige Reservearmee die Lohnspirale immer weiter nach unten treiben. Je mehr Arbeit zerfasert, desto schwächer wird die Verhandlungsmacht der Crowdworker.

Entfremdung

Der Datenkapitalismus treibt die Entfremdung des Menschen von der Arbeit, wie sie Karl Marx schon in der ersten industriellen Revolution beobachtet hat, auf die Spitze. Denn die Crowdworker wissen oft gar nicht, warum sie beispielsweise Straßen oder Schienen in Videos markieren. Manche glauben, sie machen das für ein Computerspiel, andere wiederum gehen davon aus, sie arbeiten im Auftrag eines Vermessungsamts.

Und auch den meisten Nutzern dürfte wohl nicht bewusst sein, dass die KI, die ihre Fragen beantwortet oder Spur im Auto hält, mit Daten trainiert wurde, die in Kenia oder Venezuela sortiert wurden. (Adrian Lobe, 24.5.2022)