Im Gastblog geht der Politikwissenschafter Julian Plottka der Frage nach, ob der kasachischen Präsident Kassym-Jomart Tokajew ein neues Kasachstan bauen können wird.

Die Protestwelle, die sich Anfang 2022 in Kasachstan gegen eine Verdopplung des Preises von Autogas richtete, war zuerst weniger außergewöhnlich als die mediale Berichterstattung suggerierte. Für die Jahre 2018 bis 2020 zählt der "Central Asia Protest Tracker"¹ 1.328 Protestereignisse in Kasachstan. Doch durch ihr Ausmaß, den Einsatz ausländischer Soldaten und die politischen Folgen gewannen die Ereignisse eine herausragende Bedeutung für das Land.

"Alter Mann, geh weg"

Als eine Deckelung des Autogaspreises nicht zu einer Beruhigung der Proteste führte, wurde deutlich, dass das Anliegen der Protestierenden ein anderes war. Sie forderten den Rücktritt der Regierung und skandierten "Alter Mann, geh weg". Dieser Slogan richtete sich gegen den früheren Präsidenten Nursultan Nasarbajew, die graue Eminenz Kasachstans.

Daraufhin entließ der amtierende Präsident Kassym-Jomart Tokajew die Regierung sowie Führungskräfte in den Sicherheitsdiensten, die als Vertraute Nasarbajews galten. Zugleich bezeichnete er die Demonstrierenden als im Ausland ausgebildete Terroristen, um eine Friedenstruppe der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) anfordern zu können. Erste Soldaten aus Armenien, Belarus, Russland und Tadschikistan trafen bereits am nächsten Tag ein. Ab dem 7. Januar durften Sicherheitskräfte ohne Vorwarnung schießen. Zwei Tage später verkündete der Innenminister eine Stabilisierung der Lage. Die Bilanz bis dahin waren laut offiziellen Angaben: 164 Tote, 2.200 Verletze und 5.800 Verhaftete.²

Über die Identität der Demonstrierenden und der Randalierer wird viel spekuliert. Klar ist allein, dass es keine Belege für die Terroristen-These gibt und dass es keine Farbrevolution war. Vielmehr liefen zwei Prozesse parallel ab: Einerseits gab es friedlichen Protest wegen der sozio-ökonomischen Lage, andererseits verfolgten gut organisierte Akteure eine gewaltsame Agenda.

Tokajew balanciert in der Außenpolitik zwischen vielen Erwartungen.
Foto: imago images/Xinhua

Ist Tokajew der neue starke Mann in Kasachstan?

Der amtierende Präsident, der über keine starke Machtbasis verfügt, nutzte die Proteste, um sich von seinem Vorgänger zu emanzipieren. Tokajew übernahm im Januar den Vorsitz im Nationalen Sicherheitsrat. Vorsitzender der Partei "Nur Otan", die sich in "Amanat" umbenannt hat, ist er bereits seit November 2021. Auch die Absetzung der Regierung war ein Symbol der Emanzipation. Dies geschah jedoch augenscheinlich mit der Rückendeckung Naserbajews, der am 8. Januar die kasachische Bevölkerung aufrief, sich hinter Tokajew zu stellen.

Insgesamt ging dieser beim machtpolitischen Umbau sehr vorsichtig vor. Zwar wurden einzelne Posten neu besetzt und Nasarbajew-Vertraute entlassen, gleichzeitig hatten elf der neuen Regierungsmitglieder bereits in der letzten, noch von Nasarbajew ernannten Regierung gedient. Tokajew bricht nicht vollständig mit dem alten System, sondern signalisiert, dass dessen Nutznießerinnen und Nutznießer sich keine großen Sorgen um ihre Privilegien machen müssen.

Wird Tokajew ein "Neues Kasachstan" bauen können?

Die Vorstellung des neuen Premierministers Alikhan Smailow nutzte Tokajew zur Ankündigung politischer und wirtschaftlicher Reformen. Seine Vorschläge konkretisierte er in der von September auf März vorgezogenen Ansprache des Präsidenten an die Nation, in der er zehn Reformvorhaben ankündigte. Neun davon zielen auf eine Reform des politischen Systems. Eine Demokratisierung des Landes ist jedoch nicht zu erwarten, da Tokajew dazu die Macht der alten Elite vollständig unterminieren müsste.

Statt wirtschaftlicher Reformen umfasst das zehnte Vorhaben ökonomisches Krisenmanagement. Aufgrund seiner engen Bindung an Russland ist Kasachstan indirekt von den westlichen Sanktionen betroffen. Auch wenn die Öl- und Gaspreise zuletzt rasant stiegen, reichen die Einnahmen aus den kasachischen Exporten nicht, um einen Abschwung zu verhindern, geschweige denn, Reformen zu finanzieren.

Angesichts steigender Lebensmittelpreise hat Tokajew die Bevölkerung vielmehr auf einen sinkenden Lebensstandard vorbereitet. In Abhängigkeit vom Erfolg des Krisenmanagements könnte der öffentliche Druck wieder steigen. Die Protestierenden hatten sich sicher mehr als Kapitalverkehrskontrollen und eine staatliche Kampagne zur Steigerung der Agrarproduktion erhofft.

Hat Tokajew Kasachstan an Russland ausgeliefert?

Ob der Ruf nach OVKS-Truppen Russlands Einfluss im Land gestärkt hat, wird auch in Kasachstan kritisch diskutiert. Vieles spricht jedoch dafür, dass die OVKS-Truppen ein innenpolitisches Signal waren, um Beamte des Sicherheitsapparates vor einem Überlaufen zu den Protestierenden zu warnen.

Russland dürfte es derweil zu pass gekommen sein, dass der Einsatz frühere Kritik widerlegt, die OVKS sei ein zahnloser Papiertiger. Wenn die Mitgliedstaaten wieder Vertrauen in die Organisation haben, kann Russland die OVKS nutzen, um seit dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan gestiegene Sicherheitserwartungen an Russland zu erfüllen, ohne die eigenen Armee überzustrapazieren.

Inwieweit die zentralasiatischen Staaten aber nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine weiterhin russische Hilfe bei der Terrorismusbekämpfung und Grenzsicherung wünschen, ist eine offenen Frage. Tokajew balanciert in der Außenpolitik zwischen russischen Loyalitätserwartungen, den wirtschaftlichen Folgen westlicher Sanktionen gegen Russland und den Erwartungen der eigenen Bürgerinnen und Bürgern.

Weder unterstützt Kasachstan den russischen Angriffskrieg mit Truppen, noch erkennt es die sogenannte Volksrepubliken in der Ostukraine an. Aus Kasachstan wurde im März vielmehr humanitäre Hilfe in die Ukraine gebracht. Schon 2021 hatte das kasachische Außenministerium klargestellt, dass die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU) aus kasachischer Perspektive ein rein ökonomisches, sprich kein politisches Projekt ist, also nicht für eine Antwort auf westliche Sanktionen gegen Russland genutzt werden kann.

Andererseits erkannte Tokajew in einem Telefonat mit Wladimir Putin die herausragende Bedeutung einer Vereinbarung über den neutralen, bündnisfreien und atomwaffenfreien Status der Ukraine an und bekundete, die Wirtschaftsbeziehungen weiter intensivieren zu wollen. Der außenpolitische Balanceakt auf dem Weg zu einem "Neuen Kasachstan" scheint nicht weniger fordernd als die innenpolitischen Aufgaben, die vor Tokajew liegen. (Julian Plottka, 31.5.2022)

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und an der Professur für europäische Politik an der Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Beziehungen der EU zu Zentralasien.

Der Beitrag ist im Rahmen des Jean-Monnet-Netzwerks "The EU and the EEU: Between Conflict and Competition, Convergence and Cooperation" (EUCON) entstanden, das von der EU im Rahmen des Programmes "Erasmus+" finanziell gefördert wird.
Der Beitrag spiegelt allein die Ansicht des Autors wider.

¹ Zeitraum 1.1.2018 bis 31.8.2020. Der "Central Asia Protest Tracker" wertet öffentliche Berichterstattung aus, um Protestereignisse zu zählen, die in der physischen Welt stattfinden. Die Mindestteilnehmendenzahl beträgt 1, ein Protestereignis, das an mehreren Orten gleichzeitig stattfindet wird je Ort einmal gezählt. Ein Protestereignis, das an mehreren Tagen stattfindet, wird für jeden Tag einmal gezählt.
² Faz.net: Staatsfernsehen: 164 Menschen bei Unruhen getötet

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