Am 8. Mai 2022 erschien im STANDARD in der Zeitung und online eine Geschichte über das neue Leben ukrainischer Mütter in Österreich. In einer vierteiligen Serie schildern die Vertriebenen nun, wie sie den Krieg in der Ukraine miterlebten, und sprechen über die traumatische Flucht.

Olga hatte in Dnipro in einem Krankenhaus als Chirurgin gearbeitet. Am 2. April ist sie mit ihren drei Kindern Ksenia (12), Vasylysa (5) und Maria (2) und den beiden Katzen nach Leobersdorf in Niederösterreich gekommen.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Olga (45), Chirurgin aus Dnipro

"Es ist nicht das erste Mal, dass ich darauf warte, bis mein Mann aus dem Krieg zurückkehrt. In den Jahren 2015 bis 2018 hat er für das Militär gearbeitet und war im Kriegsgebiet in der Ostukraine im Einsatz. In der Zeit war ich die ganze Zeit mit den Kindern alleine hier in Dnipro. Ich habe also sozusagen schon Erfahrung als alleinerziehende Mutter. Jetzt hätte er sogar ausreisen dürfen, weil wir ja drei minderjährige Kinder haben. Er ist dennoch in Dnipro geblieben. Vom ersten Tag des Krieges an hat er sich wieder der Armee angeschlossen, obwohl er zuletzt als Logistiker in einem Krankenhaus gearbeitet hat. Jetzt sichert er als Soldat die Stadt vor den Russen. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Menschen dort zu beschützen, seine Stadt und sein Land zu verteidigen. Das muss ich so akzeptieren.

Ich hatte erst recht spät überhaupt den Gedanken, dass meine Familie fliehen muss. Ich dachte mir immer: 'Nein, wir bleiben. Ich bin Ärztin. Es wird nicht lange dauern, bis die Ukraine gewinnt und alles vorbei ist.' Ich habe diesen Krieg, wie so viele andere, nicht ernst genommen. Wahrscheinlich weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Krieg überhaupt möglich ist. Meine Gedanken: 'Wie soll das denn gehen? Die westliche Welt würde das nicht dulden. Wie könnte Putin damit davonkommen?' Offenbar habe ich mich getäuscht …

"Die Türen haben gezittert, wir hatten Panik"

Meine jüngste Tochter ist zwei Jahre alt, ich bin gerade noch in Karenz. Doch schon am ersten Tag der russischen Invasion war für mich klar, dass ich aktiv werden will. Also bin ich ins Krankenhaus gefahren, um mich freiwillig als Chirurgin zu melden. Ich habe jeden Tag seit Ausbruch des Krieges als Volontärin gearbeitet. Ich habe Medikamente für Menschen gekauft, die ihr Haus nicht verlassen konnten, Tierfutter gebracht, verwundete Menschen versorgt, Blut gespendet. Im Spital lernte ich dann eine Frau und ihre zweijährigen Tochter kennen. Sie war aus Donezk geflohen. Viele kamen zu uns nach Dnipro. Ihre Häuser wurden zerbombt, sie waren verletzt, hatten alles verloren. Ich bat dieser Frau unsere Zweizimmerwohnung an. Derweil zog ich mit den Kindern zu meiner Mutter. Ich wollte ohnehin, dass wir in dieser Zeit alle zusammen sind. Doch diese Frau und ihr Kind blieben nicht lange. Sie wollten weiter. Sie wollten das Land verlassen. Ich brachte sie zum Hauptbahnhof, wo hunderte Menschen auf ihre Evakuierung warteten. Ich werde dieses Gefühl niemals vergessen: zu sehen, wie hunderte Menschen ihre Heimat zurücklassen, fliehen, alles stehen und liegen lassen. Mich überkam eine unsagbare Trauer.

Am 15. März traf dann die erste Rakete auch unsere Stadt. Sie schlug nur zwei Kilometer von unserer Wohnung ein. Ab dann waren jeden Tag, tagsüber und auch nachts, die Sirenen zu hören. Jedes Mal musste ich mich mit den Kindern und meiner 80-jährigen Mutter im Keller verstecken. Die Türen haben gezittert, wir hatten Panik. Schrecklich. Gleichzeitig musst du als Mutter Ruhe bewahren. Die kleinen Kinder verstehen nicht, was Bomben sind, was da vor sich geht. Warum Mama plötzlich Angst hat und warum Papa nicht da ist.

Irgendwann wurde mir auch bewusst, dass wir nicht bleiben konnten – dass auch wir wegmüssen. Die Frage war nur: Wie komme ich überhaupt hier raus? Mit vier Kindern? Es gab ja keine richtige Infrastruktur mehr. Und wir passen nicht alle in ein Auto. Ein Volontär aus Deutschland, der gerade in Dnipro war, bat mir seine Hilfe zur Flucht an. Am 29. März habe ich die drei jüngeren Kinder und unsere zwei Katzen ins Auto gepackt, und wir haben Dnipro verlassen – ohne meine Mutter und meine ältere Tochter. Ich denke, jede Mutter und jeder Vater kann sich vorstellen, wie es mir dabei ging. Ein Kind zurückzulassen mitten im Krieg … Und dennoch musste ich gefasst bleiben: Wir sind vier Tage lang mit dem Auto gefahren. Ich war so müde und erschöpft von der Fahrt, da ich zwischendurch nur wenige Stunden schlafen konnte. Man kann sich sicher vorstellen, wie anstrengend das ist. Eine so lange Fahrt mit kleinen Kindern. Die nicht verstehen, warum sie so lange sitzen müssen. Rückblickend frage ich mich selbst oft, wie ich das alles alleine geschafft habe. Wahrscheinlich ist es die natürliche Motivation einer Mutter, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.

"Ich kann nicht zu Hause sitzen und nichts tun"

Als wir dann in Leobersdorf in diesem Haus hier ankamen, standen Blumen auf dem Tisch, es waren Lebensmittel für uns alle eingekauft, die Kinder bekamen Fahrräder, Bücher, Schulmaterial. Ich kann gar nicht beschreiben, wie dankbar und glücklich ich bin, all diese Hilfe zu bekommen. Das ist eine ganz neue Erfahrung von Freundschaft und Nächstenliebe.

Vor vier Wochen ist auch meine älteste Tochter mit meiner Mutter hier angekommen. Der öffentliche Verkehr war in der Ukraine bereits sehr eingeschränkt. Nach dem Raketenangriff auf einen Bahnhof in Kramatorsk wollten die beiden lieber mit dem Bus fahren. Die Fahrt war sehr anstrengend, aber sie haben es sicher nach Österreich geschafft. Nun leben wir alle hier gemeinsam mit unseren beiden Katzen.

Olgas älteste Tochter Varvara (19, nicht auf dem Foto) und ihre Mutter Larissa (80) sind vor vier Wochen nachgekommen.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Meine Tochter besucht bereits die Schule in Leobersdorf. Alle sind sehr nett und hilfsbereit. Die Lehrerin erlaubt sogar die Verwendung von Smartphones, damit meine Tochter mit den Schülern mithilfe von Übersetzern kommunizieren kann. Sie hat einen Laptop und sämtliches Schulmaterial bekommen. Dennoch hoffe ich, dass wir bald nach Dnipro zurückkönnen.

Solange ich hier bin, möchte ich helfen, wo ich kann. Ich will Geld- und Sachspenden für die Ukraine sammeln. Ich kann nicht zu Hause sitzen und nichts tun. Wenn jemand meine Hilfe benötigt, ich bin bereit.

"Verdammt, dieser Krieg ist echt"

Diese Erfahrung hier als alleinerziehende Mutter ist so etwas wie Selbstentwicklung für mich. Der Spruch 'Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker' beschreibt wohl am besten meine Einstellung.

Viele Menschen hier halten das, was in der Ukraine passiert, für Fake. Sie fragen mich, ob es denn wirklich so schlimm sei. Denen kann ich nur sagen: Ja, ist es. Verdammt, dieser Krieg ist echt. So echt wie noch nie. Die Männer von drei guten Freundinnen sind bereits in diesem Krieg gestorben. Nach all diesen Erfahrungen glaube ich an die ukrainische Armee mehr als an Gott. Sie haben uns in dieser Zeit immer beschützt. Alles, was mir bleibt, ist die Hoffnung, dass alles gutgeht. Dass mein Mann überlebt und wir als Familie in Ruhe zusammenleben dürfen." (Protokoll: Nadja Kupsa, 24.5.2022)