Wohl bekomm's: Ernst Hinterbergers unvergessener "Mundl" (alias Edmund Sackbauer), gesehen von Erich Sokol.

Foto: APA/Karikaturenmuseum Krems

Ein Stück personifizierter Arbeiterliteratur wurde erst kürzlich feierlich zu Grabe getragen, unter reger Anteilnahme tausender Wienerinnen und Wiener. Selbst der Bundespräsident ließ es sich nicht nehmen, dem tragisch verunglückten Willi Resetarits die letzte Ehre zu erweisen. Gehuldigt wurde dabei nicht nur der Privatperson, dem respektablen Humanisten. Auf Nimmerwiedersehen beerdigt wurde Resetarits‘ proletarisches Alter Ego: Die Kunstfigur "Kurt Ostbahn" bildete – gemeinsam mit der "Chefpartie" – das verschwitzte Wiener Echo auf US-Rocker mit Herz, auf "Southside Johnny & The Asbury Jukes" und ähnlich bodenständige Konsorten.

Die arbeiterliterarische Leistung bestand in der Plastizität der Erfindung. Günter (Brödl) schuf den "Kurt" (Ostbahn). Mit ihm verschaffte er einer Unzahl von arbeitenden Menschen einen Freund fürs Leben. Ganz nebenbei beherzigten die Ostbahn-Schöpfer wichtige Gesichtspunkte, die schon Bertolt Brecht für unabdingbar erachtet hatte. Wenn man das "Volk" ansprechen möchte, muss man seine Kulturbedürfnisse ernst nehmen.

Dabei hält die schwierige Forderung nach einer "wirklichkeitsgetreuen Abbildung des Lebens" (Brecht) die Wiener Literatur seit mehr als 50 Jahren in Atem. Die Herstellung von Literatur, die insbesondere die Interessen der Werktätigen berücksichtigt, führte einst zu wichtigen Gründungen wie derjenigen der Zeitschrift wespennest anno 1969.

Gefahndet wurde, nicht erst von den Gründungsautoren Helmut Zenker und Peter Henisch, nach "brauchbaren" Texten. Verstanden wurden darunter Werke, die den Benachteiligten Gewicht und Stimme verleihen und ihnen die Subjektrolle zuschreiben. Literatur sollte den "kleinen Leuten" dabei helfen, ihr eigenes Geschick zu meistern – und ihnen beibringen, wie man sich politisch organisiert.

Die Flamme des sozialen Zorns wurde weitergereicht. Als der vormalige wespennest-Redakteur und Autor Gustav Ernst weiterzog, um 1997 in Wien die ähnlich widersetzliche Zeitschrift kolik aus der Taufe zu heben, formulierte er sein Anliegen folgerichtig. Er wolle "die Sprache dorthin bringen, wo das Leid und die Gewalt noch keine Sprache haben".

Krampf im Klassenkampf

Heute hegt Gustav Ernst keine Illusionen mehr. Der Traum einer "operativ eingreifenden Rolle" von Literatur scheint ausgeträumt. "Allerdings", sagt Ernst, "war ,Eingreifen‘ damals Programm und eine fixe Idee und hat in der Literatur neue formale und inhaltliche Fantasien beflügelt. Das hat freilich kaum den direkten politischen Eingreifmöglichkeiten genützt, was damals auch schon bemerkt wurde. ,Kunst ist Krampf im Klassenkampf‘, hieß es." Immerhin habe man damals öffentliche Leseaktionen durchgeführt, im Gänsehäufel, im Lokal Voom Voom: "Wohl um mit kritischen Texten in die Alltagsgedanken der Vorübergehenden einzugreifen!"

Nicht alle wollen die Sache einer "eingreifenden" Literatur so eindeutig verloren geben. Andrea Roedig ist gebürtige Düsseldorferin. Als Co-Herausgeberin des heute deutlich polyglotter aufgesetzten Journals wespennest blickt sie zuversichtlich auf die neu entstandene gesellschaftliche Diversität.

Sie sagt: "Wir sollten Hoffnungen auf eine migrantische, diversifizierte Gesellschaft setzen – das ist unsere Gegenwart – und auch auf deren Literatur." Es gebe genug gute, eingreifende Texte. Roedig: "Ich denke an das Theater und die Essays von Enis Maci oder den Roman Identitty von Mithu Sanyal, die Identitätspolitiken klug und witzig wieder hinterfragt. Eine solche Literatur ist Selbstermächtigung der heute prekären Gesellschaftsschichten. Vielleicht tritt die migrantische Literatur auch an die Stelle der althergebrachten Arbeiterliteratur."

Furie des Verschwindens

Die Arbeiterheldinnen von Christine Nöstlinger, der liebenswürdige Rappelkopf "Mundl" aus der Feder Ernst Hinterbergers: Sie alle scheinen gehetzt von der Furie des Verschwindens. Walter Famler, Generalsekretär der Alten Schmiede in Wien, kann noch keinen Ersatz für die alt-ehrwürdige Arbeiterliteratur ausmachen. "Eine Brauchbarkeit von Literatur im Sinne Brechts lässt sich wohl nicht mehr konstatieren. Dazu fehlen die gesellschaftlichen Resonanzräume, die in postmodernen und neoliberalen Nebelschwaden längst verklungen sind."

Am Horizont sehe er manchmal noch "schwach aufleuchtende Manifeste" blinken. Die würden jedoch eher ästhetisch-moralischen als politischen Kriterien genügen.

Auch sonst reagiert Famler mit Kopfschütteln auf Versuche eines Neuansatzes. Auf migrantische oder "diversive" Gruppen sei so wenig zu setzen wie auf die noch von Herbert Marcuse in den 1970ern als Hoffnungsträger der Emanzipation idealisierten gesellschaftlichen "Randgruppen". Famlers Analyse ist staubtrocken: "Der vom selben Marcuse diagnostizierte Konsumfaschismus hat längst jede progressiv auf Befreiung ausgerichtete Perspektive korrumpiert." An die Stelle der Progressiven seien die identitären Rechten getreten. Die würde auf allen Ebenen Hegemonie beanspruchen. Und von keiner Linken an ihrer Zerstörungsarbeit gehindert. (Ronald Pohl, 24.5.2022)