Für rund 250 Schafe und Ziegen in der Tiroler Gemeinde Westendorf ist der Sommerurlaub auf der Alm heuer gestrichen. Zu fest verankert sind in den Köpfen der örtlichen Landwirte die Bilder aus dem Vorjahr: In der Nacht auf den 3. Juli wurden im Westendorfer Windautal 20 Schafe gerissen. Als Schuldiger wurde damals der Wolf ausgemacht – und als Konsequenz bleiben die Schafe heuer auf der sicheren Heimatweide.

Auge in Auge mit einem Wolf – diese Situation ereignet sich meist nur im Rudel. Vor dem Menschen hat der Wolf Angst.
Foto: Reuters / Stringer

Geblieben ist jedenfalls die Angst vor dem größten Raubtier aus der Familie der Hunde. Auch weil der Canis lupus mancherorts die Scheu vor dem Menschen immer mehr abzulegen scheint.

Rehbuffet am Spielplatz

"Wir hatten in den letzten Wochen zahlreiche Wildtierrisse am Talboden, in Siedlungsnähe", schildert der Bürgermeister von Hopfgarten im Brixental, Paul Sieberer, im STANDARD-Gespräch. Ende März hat eine Wildtierkamera bei der Fütterungsstelle am Rosskar den mutmaßlichen Übeltäter erwischt. Auf den Bildern ist klar ein Wolf zu erkennen. In den Ortschaften Itter, Westendorf und Hopfgarten wurden seitdem Risse gemeldet.

Teils beunruhigend nah an Siedlungsgebieten, wie Sieberer bestätigt: "Ein gerissenes Reh wurde direkt am Kinderspielplatz bei einem Bauernhaus gefunden. Die Eltern haben Angst und lassen ihre Kinder nicht mehr alleine raus." Er verstehe diese Sorgen, sagt der Bürgermeister: "Mütter appellieren an mich, etwas zu unternehmen." Der Wolf sei im Brixental mittlerweile kein rein bäuerliches, sondern schon ein gesellschaftliches Problem geworden. Nach den Almen sei nun der ohnehin knappe Siedlungsraum betroffen. In den Regionen Brixental-Wildschönau und Wilder Kaiser hat man deshalb eine Resolution verfasst, die der Tiroler Landwirtschaftskammerpräsident und VP-Abgeordneter Josef Hechenberger vergangene Woche an Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) überreicht hat. Die Ministerin solle sich auf europäischer Ebene für eine Senkung des Schutzstatus des Wolfes starkmachen, lautet die Aufforderung.

"Kein liebes Viecherl"

Für Bürgermeister Sieberer ist der Schutzstatus eines nicht gefährdeten Tieres wie des Wolfes unverständlich. Von der Politik auf Landes- wie Bundesebene fühlen sich die Menschen im Brixental im Stich gelassen, sagt er. Die Expertenkommission des Landes sei ungeeignet dafür, auf die Gefahren zeitgerecht zu reagieren. Und auf Bundesebene werde man überhaupt nicht wahrgenommen mit diesen Sorgen: "Da herrscht ein völlig falsches Bild vor. Der Wolf ist kein liebes Viecherl, das ist ein Raubtier." Wenn ihm Experten erklären, dass von den Wölfen keinerlei Gefahr für Menschen ausgehe, könne er nur den Kopf schütteln, sagt der Bürgermeister: "Wir haben Frauen, die sich in den Waldgebieten nicht mehr alleine aus dem Haus trauen."

Kein Problem

Der Verhaltensbiologe und Wolfsforscher Kurt Kotrschal hingegen kann die aufgeheizte Stimmung nicht verstehen und fordert "mehr Rationalität auf der Seite der Betroffenen". Man brauche nicht über eine Rückkehr des Wolfes zu diskutieren, denn: "Der Wolf ist längst in Österreich angekommen." Man müsse jetzt damit leben lernen. Im Übrigen mache der Mensch den Wolf zum Problem, sagt Kotrschal: "Echte Problemwölfe gibt es nur selten. Und wenn ein Wolf ein Reh auf einem Kinderspielplatz reißt, dann kann man doch froh sein, dass es kein Schaf war. Und ja, Wölfe laufen durch Siedlungen. Das ist kein Distanzverlust, denn die Tiere bleiben nicht in Menschennähe. Die kürzeste Verbindung von A nach B ist eine Straße – und Wölfe nehmen zum Reisen gerne Straßen."

Kotrschal: "Bei uns wird lieber emotional geschrien. Wir brauchen aber endlich einen effektiven Herdenschutz, denn ein Abschuss löst nichts. Aber beim Herdenschutz werden Betroffene vonseiten der Politik im Regen stehen gelassen." Nachsatz: "Sich Fördergelder für den Herdenschutz in Brüssel abzuholen würde natürlich eine Anerkennung des Wolfes bedeuten. Dagegen sträuben sich viele." Am Beispiel Trentino zeige sich aber, dass ein friedliches Zusammenleben mit dem Wolf möglich sei: "2021 gab es dort 21 Wolfsrudel und ein Drittel mehr Schafe. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Kooperationsbereitschaft. Die Bauern haben Herden zusammengelegt: 1000 Schafe und nicht 50 wie bei uns, bewacht von erfahrenen Hirten mit Hunden."

Hosentaschenalarm

Manch einer schreitet in der heiklen Wolfsdebatte auch zur Eigeninitiative – was nicht immer mit dem Griff zur Flinte gleichzusetzen ist. Oliver Kubitz, Pferdebesitzer in Düsseldorf, hat eine Art Alarmanlage entwickelt. "Die Risse in unserer Gegend sind mehr geworden, und ich hatte Angst um unsere Familienponys Sora und Chiara", sagt Kubitz im Standard-Gespräch.

Der 59-Jährige hat rund 70.000 Euro in die Hand genommen und mithilfe eines Start-ups eine Wolfs-Warn-App entwickelt. Mit 300.000 Wolfsbildern wurde das System gefüttert, dazu kamen noch 25.000 Hundebilder. "Damit die KI lernt, den Wolf vom Hund zu unterscheiden", erläutert Kubitz. In der Praxis wird eine Überwachungskamera mit der App gekoppelt, diese schlägt bei einer Wolfssichtung sofort Alarm. "Dann bleiben etwa 15 Minuten für Abwehrmaßnahmen vor Ort, ehe es zum Angriff kommt." Womit sich auch ein Manko der App auftut: Abgelegene Almen sind so nur schwer zu überwachen. (Steffen Arora, Markus Rohrhofer, 24.5.2022)