Wolfram Lotz legt auf 900 Seiten vier Monate seines Lebens aus dem Jahr 2017 zur Lektüre vor. Verehrer seiner Kunst kommen dabei voll auf ihre Kosten: "Vor der Sprache soll man nicht auf den Boden fallen / die soll doch wimmeln und quietschen wie ein Meerschwein."

Foto: André Simonow

Was macht so ein Autor eigentlich den lieben langen Tag? In Wolfram Lotz Heiliger Schrift I kann man das nachlesen. Ein Jahr lang hat der hoch erfolgreiche, sich aber rar machende Dramatiker einfach alles aufgeschrieben – danach hat er das Manuskript am Computer vernichtet. Er hatte Teile davon aber bereits einem Freund geschickt, und die sind jetzt erschienen. So erzählte Lotz es der Süddeutschen Zeitung. Warum vernichtet? Weil das Projekt unkontrollierbar geworden sei und er es eigentlich eh nie veröffentlichen wollte. Doch, erfuhr die SZ, lasse er sich leider leicht "bequatschen". Dem wollte er mit der Vernichtung vorbauen. Vergebens.

Zum Glück! Denn dieses Journal, das teilweise auch von Belanglosigkeiten wie der Begegnung mit einer Katze mit "EXTREM FLUFFIGEM Langhaarfell / Wirklich EXTREM fluffig" erzählt, sprüht vor Witz, Klugheit und liefert zudem eine poetologische Selbstbetrachtung des 1981 Geborenen. Wobei: Stellen wie die mit der Katze sind ja eigentlich süß.

Die 900 publizierten Seiten decken die Monate vom 8. August 2017 bis zum 20. Dezember 2017 ab. Es ist kein normales Jahr für Lotz und seine Familie. Sie wollen es in Frankreich in einem Dorf im Elsass verbringen. Seine Familie, das sind die Kinder "O" und "E" sowie Lotz’ Frau "N". Mit ihr hat er sich geeinigt, dass das gemeinsame Privatleben nicht Teil der Niederschrift werden soll, sie könnte es korrumpieren.

Lockerheit gesucht

Die Kinder kommen aber oft vor, weil sie viel Zuwendung brauchen. "Das ist einerseits bedauerlich, weil die den für’s Schreiben ja so wichtigen inneren Ständig-Durchlauf jedes Mal unterbrechen", bemerkt Lotz über die Bedürfnisse des Nachwuchses. Andererseits würden sie den Schreibtunnelblick "aufbrechen zum Leben hin, was ja genau richtig ist". In seinem Frankreichjahr sucht der Autor nicht Käse und Wein, sondern ein Schreiben, das "wach nach außen" ist. Er will kein Feilen an Sätzen, sondern deren "Nicht-Sollen".

Das war bisher Lotz’ Sache nicht. Anspielungsreich und detailgenau gedrechselte Stücke wie Die lächerliche Finsternis (Akademietheater 2014) und Die Politiker (zuletzt am Volkstheater) haben ihn berühmt gemacht. Der Tonfall in Heilige Schrift I ist dagegen umgangssprachlich, da stecken viele "eben" und "halt" drin, die Wortreihenfolge holpert. Gut zu wissen, dass es den Besten auch so geht.

An den Politikern arbeitet Lotz übrigens zu jener Zeit. Es ist dokumentiert, wie er Vorträge erarbeiten muss (eine Qual für ihn), mit Dramaturginnen Kontakt hält (eine Qual für sie, denn er schaut seine Mails selten an) oder Theaterprojekte absagt. Blöderweise hat er zuletzt einem zugesagt, weil er so den Dramaturgen "überrumpeln" wollte. Jetzt reut ihn das. Es geht, so lässt sich schließen, um ein Hans-Gratzer-Stipendium-Mentoring 2018 am Wiener Schauspielhaus. Mit kurzen Texten, die er für Zeitungen liefern soll, hadert er auch: "Das alles geht ja am eigenen Schreiben nicht vorüber, sondern (...) verbeult es".

Lieber Miley Cyrus als Kehlmann

Lotz lässt einen in den Maschinenraum des Theaterbetriebs spähen: mit Interviews, die man geben muss und die sich immer ähnlicher werden, mit Freunden, denen er nach Preisen Glückwunsch-SMS sendet. Von Saša Stanišićs Twitter-Account springt ihm "Mittelmaß-Doofheit entgegen", Daniel Kehlmann findet er betulich, dafür outet er sich als Fan von Popstar Miley Cyrus' Mut zum Scheitern.

Und dann deutet sich in der Passage wie jener von der Trude, die als Anhängsel ihres Mannes beim örtlichen Gesangsvereinsausflug mit nach Rom gefahren ist, dort als Einzige vom Papst die Hand geschüttelt bekommen hat und das Foto von diesem Moment ganz stolz im Wohnzimmer aufgestellt hat, es aber bald versteckt, weil die anderen im Dorf ganz missgünstig sind, weil die Trude ja nicht einmal selbst im Gesangsverein singt, und von deren Geschichte Lotz noch nicht weiß, wie er sie in seine Kunst hineinholen kann, der genial abgründige Schenkelklopfer an.

Um Theologie geht es beim Titel nicht. Der Autor schätzt schlicht das Wort sehr. Er sinniert, dass Wirklichkeit in geordnete Texte zu pressen einen Verlust von Realität bedeutet, ärgert sich über Regisseurinnen, die seine Figuren nach Geschlecht und Hautfarbe realistisch besetzen, bekrittelt die Komplexität scheuende Art, mit der deutscher Film und die Nachrichten von der Welt erzählen. Er will dem entgegenhalten. Seine Stücke entstünden, wenn er ein Thema fertig bedacht hat. Zugleich geht ihm vor "Gesellschafstaufrissgetöse" am Theater die Kunst verloren. Lotz notiert in Echtzeit, wenn er im Auto dem Kind ein Speibsackerl gibt, oder: "Beim Aufstehen / Nerv eingeklemmt, sofort / wieder hingesetzt, Computer angemacht / das hier reingeschrieben". Ob das mit dem Schmerz gut wird, erfahren wir nicht mehr. Amen. Ähm: Leider! (Michael Wurmitzer, 24.5.2022)