Die 96-jährige Queen, festlich im gelben Kostüm, stattete "ihrer" Linie vergangene Woche einen Besuch ab.

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"Hören Sie mal, ist das nicht fabelhaft?" Mark Wild ist wirklich sehr begeistert, sodass man ihn ungern enttäuschen will. Aber zu hören gibt es eigentlich nichts so richtig hier im Bahnhof von Farringdon, 35 Meter unter der Londoner City – jedenfalls nicht, seit ein 200 Meter langer Zug der neuen Elizabeth Line rasant an uns vorbei in den Tunnel gerauscht ist. "Na eben, das ist es doch, diese brillante Akustik!", freut sich Wild nun auch noch über seine begriffsstutzigen Besucherinnen und Besucher.

Wer jemals durch die engen, stickigen Schächte der Londoner U-Bahn geeilt ist, das Knirschen und Kreischen der Züge, das Quietschen der Rolltreppen, das Rauschen der nachträglich aufgestellten Kühlsysteme erlebt hat, kann Wilds Stolz nachvollziehen. Von diesem Dienstag an erleben auch die Menschen in London den Kontrast zwischen ihrer alten "Tube" und der schnittigen neuen Linie, die nach jahrzehntelanger Planung und 13 Jahren Bauzeit endlich in Betrieb geht. Übrigens handelt es sich nicht einfach nur um eine neue Linie der Untergrundbahn, darauf legt der Chef des Crossrail genannten Bauprojekts schon wert: "Es verändert die Transport-Infrastruktur der Stadt."

Crossrail hat die Fantasie von Eisenbahn-Enthusiasten seit vielen Jahren beschäftigt, erste Pläne für eine Ost-West-Durchquerung der Hauptstadt wurden sogar schon in den 1840er-Jahren gewälzt. Aber erst 2008 gab die damalige Labour-Regierung dem Projekt grünes Licht, ein Jahr später erfolgten die ersten Bauarbeiten.

Dreieinhalb Jahre nach Plan

Der Tag der Eröffnung liegt dreieinhalb Jahre nach dem ursprünglich geplanten Termin, das ursprüngliche Budget wurde um 30 Prozent überschritten. Was Regierung und Stadt nun der Monarchin Elizabeth II gerade noch rechtzeitig zu den Feiern ihres 70-jährigen Platin-Thronjubiläums zu Füßen legen, hat die stolze Summe von 18,5 Milliarden Pfund (21,8 Milliarden Euro) gekostet. Höchstselbst stattete die 96-jährige Patin, festlich im gelben Kostüm, "ihrer" Linie vergangene Woche einen Besuch ab – hohe Auszeichnung in einer Zeit, da die Queen immer seltener in der Öffentlichkeit zu sehen ist. "Wir haben Blut geschwitzt", um diesen Termin einzuhalten, berichtet Andy Byford von der Londoner Verkehrsbehörde TfL.

Ein klein wenig Etikettenschwindel gehört auch dazu. Denn eröffnet wird jetzt erst einmal nur der Abschnitt zwischen dem West-Londoner Bahnhof Paddington und dem Stadtteil Abbey Wood im Südosten der Stadt. Wer im Westen bis zur Stadt Reading oder in der östlich an London angrenzenden Grafschaft Essex nach Shenfield kommen will, muss umsteigen. Erst im Herbst soll die Elizabeth Line über die gesamte Länge von 100 Kilometern mit 41 Bahnhöfen ihre volle Wirkung entfalten.

Technische Probleme

Wie es zur Verteuerung und Verspätung kam? Da verweist Projektleiter Wild zunächst auf die enormen technischen Probleme, die das Untertunneln einer 2.000 Jahre alten Stadt mit zahlreichen existierenden Schächten für U-Bahnen, Abwasser und Elektrizität mit sich bringt. Der ebenfalls von Ost nach West verlaufenden Central Line seien die gigantischen Bohrmaschinen der schwäbischen Firma Herrenknecht manchmal "bis auf einen Meter" nahegekommen.

Auch mussten die Belange von Archäologinnen – diese entdeckten Massengräber aus der Pestzeit ebenso wie unzählige römische Münzen – und Kulturveranstaltern berücksichtigt werden, weshalb die neue Bahn streckenweise auf geräusch- und geldschluckendem Material verläuft. Als richtig haarig stellte sich aber vor allem die komplette Digitalisierung von drei historisch unterschiedlichen Signalsystemen heraus. "Die hat uns Zeit und Geld gekostet", erläutert Wild.

Bequeme, lange Züge

Ob sich der Aufwand gelohnt hat? Beim Verkehrsmuseum können Begeisterte bereits Socken (10,62 Euro), Gesichtsmasken (9,44 Euro) oder Kissen (235,90 Euro) im Look der neuen Eisenbahn bestellen. Die Konjunkturspritze des Projekts für die gesamte britische Wirtschaft beziffert Verkehrsminister Grant Shapps auf 42 Milliarden Pfund (49,5 Milliarden Euro). Dabei stützen sich Ökonominnen nicht zuletzt auf die Hoffnung, die bequemen langen Züge würden all jene Pendler in die Innenstadt zurücklocken, die in der Pandemie das Homeoffice zu schätzen lernten.

Bis dahin bleibt freilich ein weiter Weg. Was die Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs und der innerstädtischen Geschäfte angeht, hinkt London New York, aber auch Berlin und Paris hinterher. Immerhin verzeichne das Theater- und Einkaufsviertel West End inzwischen etwa 70 Prozent der Besucheranzahl von 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, freut sich Tourismus-Lobbyistin Tracy Halliwell. Blöd nur, dass ausgerechnet berühmten Einkaufstempeln wie Selfridges und John Lewis mit der Elizabeth Line einstweilen gar nicht geholfen ist: Deren nächstgelegener Bahnhof Bond Street eröffnet nämlich frühestens im Herbst. (Sebastian Borger aus London, 24.5.2022)