"News" spürte der Psyche von Selenskyj und Putin nach.

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Wien – Der Meinungskampf um den Ukraine-Krieg hat nun dazu geführt, dass der Chef der News-Gruppe, Horst Pirker, den Journalisten Christian Ortner wegen Geschäftsschädigung klagt. Ortner hatte in einem Beitrag für den Blog "Mena-Watch" eine Charakterisierung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in einer Titelstory des Magazins News für "antisemitisch" befunden.

Der Reihe nach: Am 15. April erschien in News eine Coverstory mit dem Titel "Die Psychologie der Macht", die sich intensiv mit der Psyche der Gegenspieler Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj befasste. Autorin war die "Philosophin und Psychotherapeutin" Monika Wogrolly, tätig in Wien und Graz. Eine Gastautorin, die den Hauptartikel verfasst – das ist ein wenig ungewöhnlich.

Jedenfalls unterzog Wogrolly die beiden Präsidenten einer Ferndiagnose. Über den ukrainischen Präsidenten Selenskyj sagte sie, der frühere Schauspieler sei ein "Histrioniker", was im Fachjargon eine Persönlichkeitsstörung darstellt, nämlich ein übertrieben egozentrisches Verhalten. Das wiederum sei letztlich auf die Prägung durch sein Schicksal als Angehöriger des jüdischen Volkes zurückzuführen: "Das Motiv des Histrionikers ist, seine innere Leere auszufüllen, was er wie ein Vampir unablässig tun muss, und das, indem er lügt und blendet, um sich selbst zu beweisen, wie großartig er ist. (…) Triebfeder kann hier, wie gesagt, das psychologische Trauma der jüdischen Vorfahren (…) sein."

Stereotyp des "blutsaugenden Juden"

Das wiederum bezeichnete Ortner als "antisemitisch", weil das schon von den Nazis verwendete Stereotyp des "blutsaugenden Juden" (Vampir) im Zusammenhang mit "lügt und blendet" zumindest assoziativ verwendet werde. "Mena-Watch" ist ein "unabhängiger Nahost-Blog", der sich auch mit Antisemitismus befasst. Ortner ist dort Gastkolumnist.

News-Herausgeber Pirker reagierte auf die Kritik an der Psycho-Titelstory zunächst mit einer halben Entschuldigung auf Twitter, reichte dann aber doch vor dem Wiener Handelsgericht Klage gegen Ortner und "Mena-Watch" ein.

Ortner und "Mena-Watch" wiederum rücken mit Gutachten an, die den Antisemitismusvorwurf stützen: Universitätsprofessor Martin Lange vom Institut für Judaistik der Uni Wien verweist auf die Vampirmetapher, die auf Juden seit dem späten 19. Jahrhundert angewendet wird . Es handle sich zumindest um "accidental antisemitism". Der Publizistikprofessor Maximilian Gottschlich schließlich schreibt, die "sublime Verknüpfung diagnostizierter oder vermuteter psychischer Störungen mit der mehrfach angesprochenen jüdischen Biografie Selenskyjs bedeutet letztlich eine Opfer-Täter-Umkehr, wie sie sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Antisemitismus zieht ... Denn das von der Autorin behauptete jüdische Trauma wird als Erklärung für vermeintliches Fehlverhalten der Juden von heute, so auch jenes von W. Selenskyj, der ‚lügt und blendet‘, herangezogen."

Auch Putin einer Ferndiagnose unterzogen

Wogrolly hat auch Wladimir Putin einer Ferndiagnose unterzogen. Sie stuft ihn auch als "narzisstisch" ein, hat aber irgendwie Verständnis: "Er fühlt sich höchstwahrscheinlich medial und zwischenmenschlich unverstanden, abgewertet und ungeliebt, weil er schon jahrelang für die westliche Welt in der Rolle des Bösewichts manifestiert ist."

Die grundsätzliche Dimension des Streits besteht auch darin, ob solche Ferndiagnosen zulässig sind. In der psychotherapeutischen Berufspraxis sind sie streng verpönt. Interessanterweise bietet Wogrolly auch Beratung per E-Mail an. Publizistisch sind solche Einschätzungen bei Personen des öffentlichen Interesses jedoch möglich. Auch Donald Trump wurde von einer Gruppe angesehener US-Psychiater mit "narzisstischer Persönlichkeitsstörung" diagnostiziert, worüber die US-Medien berichteten. Wenn eine Führungspersönlichkeit einen Personenkult zulässt, wie Putin, kann man wohl von narzisstisch sprechen; aber das jüdische Schicksal eines Politikers als "Triebfeder" für "Lügen und Blenden" zu vermuten steht sehr wohl unter starkem Antisemitismusverdacht. (Hans Rauscher, 23.5.2022)