Im Gastkommentar wundert sich Germanist Norbert Christian Wolf über den Bildungsbegriff der Neos.

Im April haben die Neos, eine "Bildungspartei", unter dem Header "Finanz- und Wirtschaftsbildung stärken" eine Kampagne geschaltet, die aufklärt, "wie Schulen unsere Kinder auf das Leben vorbereiten können". Im Rahmen dieser "Bildungsoffensive" erfahren wir, was die Neos sich unter Bildung vorstellen – und was nicht. Da heißt es: "Du weißt, wer so spät durch Nacht und Wind reitet, aber nicht, wie Inflation funktioniert?" Oder: "Ich habe gelernt, wie man auf drei Sprachen eine Gedichtinterpretation schreibt, aber nicht, wie man einen Mietvertrag liest." Verblüffend ist für einen Philologen der Gedanke, dass mehr Bildung über eine Schwächung des Literaturunterrichts an den Schulen erreicht werden könne.

Ich kann die Neos beruhigen: Sie werden an Österreichs Schulen kaum jemanden finden, der oder die weiß, "wer so spät durch Nacht und Wind reitet", und gewiss niemanden, der oder die "auf drei Sprachen" eine passable Gedichtinterpretation zu schreiben vermag. Diese Kompetenz ist den meisten Jugendlichen selbst in der Muttersprache längst abhandengekommen, nachdem Literatur an unseren Schulen nur noch ein Schattendasein fristet und Lyrik fast keine Rolle mehr spielt. Selbst von jungen Germanistikstudierenden hat kaum noch jemand Goethes Erlkönig in der Schule analysiert.

Leserinnen und Leser der Generation 40+ erkennen im Titel sicher die erste Zeile aus Johann Wolfgang von Goethes gar nicht so unzeitgemäßer Ballade "Erlkönig" aus dem Jahr 1782 und wissen: "Es ist der Vater mit seinem Kind."
Foto: Imago / EPD / Agenzia Romano Siciliani

Die Bildungspolitik hat schon längst ganze Zerstörungsarbeit geleistet, obwohl es genügend empirische Studien gibt, die zeigen, wie wichtig die intensive Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur für die kognitive Entwicklung nicht nur der Fantasie, sondern auch der Toleranz- und Empathiefähigkeit ist. Das erscheint mir gerade in kriegerischen Zeiten mit ihrer kulturwissenschaftlich längst überholten Identitätspolitik nicht unerheblich zu sein.

Traurige Reste

Schleierhaft ist mir aber, was die Neos dazu treibt, die in den Schulen praktizierten traurigen Reste eines Literaturunterrichts und die Vermittlung wirtschaftskundigen Wissens gegeneinander auszuspielen – als ob die weitere Verdrängung jener aus den Lehrplänen diese befördern würde. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Unkenntnis des Unterschieds zwischen "Menschenbildung" im Humboldt’schen Sinn und bloßer Berufsausbildung: Sie verwechseln Bildung mit instrumentellem Wissen zur simplen Bewerkstelligung des Alltags und "Vernunft" im Kant’schen Sinn mit bloßem "Verstand", sie wollen vermitteln, "wie man das eigene Konto effizient managt" – also wie man geschickt ein offenbar als bereits vorhanden vorgestelltes Vermögen vermehrt.

Wer Fertigkeiten der Profitmaximierung in den höher bildenden Schulen an die Stelle des Kunst- und Literaturunterrichts setzen will, dessen Menschenbild ist nicht "bildungsaffin". Über die eminente Bereicherung menschlichen Lebens durch Kultur- und Kunstgenuss möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht sinnieren, das scheint den Anhängern solcher Slogans ohnehin nicht zugänglich zu sein. Die Polemik ist auch sachlich falsch, denn die Auseinandersetzung mit Inflation und ihren Ursachen zählt zum etablierten Lernstoff des Geografieunterrichts, was leicht herausfinden kann, wem es darum wirklich geht. Und das Lesen eines Mietvertrags wird jeder und jedem leichter fallen, wenn sie beziehungsweise er ein Mindestmaß an Lese- und Reflexionsfähigkeit erworben hat, wofür gerade auch der Deutschunterricht an unseren Schulen maßgeblich ist. Wir haben davon nicht zu viel, sondern zu wenig.

"Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen."

Besonders peinlich stößt auf, wenn sich ein bildungspolitischer Slogan geradezu als Plagiat erweist, denn plagiatorische Praktiken sind eine Pervertierung des Bildungsgedankens. Denjenigen, die über die engen sachlichen und fachlichen Grenzen der heimischen Medienlandschaft hinausblicken, wird der zweite Slogan der Neos bekannt vorkommen.

Tatsächlich war Anfang 2015 in deutschen Zeitungen die Klage einer 17-Jährigen namens Naina zu lesen: "Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen" (FAZ sowie Die Zeit vom 16.1.2015). Es überrascht nicht, dass die Neos diesen Sager, der kaum auf intensive Erlkönig-Reflexionen schließen lässt, etwas entschärft haben, denn eine Gedichtanalyse in vier Sprachen wurde wohl nicht einmal in den wenigen Europa-Klassen dieses Landes je unternommen. Dass die Neos sich an dieser sieben Jahre alten Diskussion "bedient" haben, geht daraus hervor, dass schon damals das eher unübliche Fugen-s beim Wort "Gedichtsanalyse" verwendet wurde.

Unnötige Vereinfachung

Es handelt sich bei der Kampagne der Neos um die Kopie einer alten deutschen Debatte, die außer manchen populistischen Sagern wenig Positives für den Bildungsgedanken bewirkt hat. Jetzt wird sie in Österreich noch einmal aufgewärmt, als hätte es keine gewichtigen Argumente gegen eine Schwächung des Literaturunterrichts gegeben. Das ist bezeichnend für den Stand der bildungspolitischen Debatte in diesem Land. Selbst die 17-jährige Naina hat damals in der Zeit ergänzt: "Aber auch an der Uni ist es hilfreich, wenn man einen Text analysieren kann." Diese Einsicht wird von den Neos geflissentlich unterschlagen.

In einer Zeit, in der Simplifizierungen komplexer Sachverhalte und krude "Verschwörungstheorien" wuchern und von bestimmten Interessengruppen systematisch verbreitet werden, sollte eine Bildungspartei nicht mit Stalinorgeln gegen einen differenzierten Sprach- und Literaturunterricht feuern. Demgegenüber scheint es mir angebracht, darüber nachzudenken, was Bildung heute tatsächlich bedeutet (im Unterschied zur bloßen Vermittlung von Wissensbeständen und praktischen Fertigkeiten) und welche Rolle in demokratischen Gemeinwesen eine elaborierte kritische Analyse-, Artikulations- und Reflexionsfähigkeit zu spielen hat.

Moderner Deutschunterricht sollte sie als Textanalysekompetenz vermitteln und Jugendliche in die Lage versetzen, jene populistischen oder völkischen Diskurse besser zu durchschauen, die momentan auch zur Legitimation eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges verwendet werden. (Norbert Christian Wolf, 24.5.2022)