Im Gastblog erklären die Bildungsarbeiterin Hanna Grabenberger und der Anthropologe Paul Grabenberger, warum man mit Beispielen der Solidarität auf Ungleichheiten reagieren muss.

"Cool, hier gibt es eine Box für die Ukraine!", ruft XY, als er in der Pause die Schachtel mit den Spenden findet. Nach ein paar Minuten kommt er auf mich (Lehrerin) zu und fragt mich: "Warum gibt es eigentlich keine Box für Afghanistan oder Syrien?" XY ist 2015 nach Österreich geflohen.

Die Aussage trifft mich schlagartig. Schon davor machte mich der Asyldiskurs, der zwischen ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern und anderen Asylsuchenden unterscheidet, wütend und hilflos. Mit dem offenen Brief an die Regierung "Krieg ist Krieg. Mensch ist Mensch" haben über 90 Vertreterinnen und Vertreter aus der Zivilgesellschaft auf die rassistische Unterscheidung zwischen Schutzsuchenden aufmerksam gemacht. Uns ist wichtig: Wir müssen gegen Rassismus und für erleichterte rechtliche Bedingungen im Asylwesen für alle Menschen kämpfen!

Durch XYs Frage wurde mir erneut bewusst, dass der Diskurs auch an den Jugendlichen, mit denen ich arbeite, nicht spurlos vorbei geht. Wo bleibt nun die (öffentliche) Empörung darüber, wie sich diese ungleiche Behandlung im Asylwesen auf Kinder und Jugendliche auswirkt? Wir haben die Verantwortung, uns dieser Herausforderung als Pädagoginnen und Pädagogen zu stellen, da wir für alle Kinder und Jugendliche da sein müssen!

Wir müssen für alle Kinder und Jugendliche da sein!
Foto: APA/AFP/INA FASSBENDER

Rassismus als Grundlage eines "Zwei-Klassen"-Asylsystems

Im Kontext der derzeitigen österreichischen und europäischen Asylpolitik zeigen sich Formen des Othering. Unter Othering wird ein "Andersmachen" von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale (Religion, Herkunft, Bildung, etc.) gegenüber einem erdachten "Wir" verstanden. Rassismus wird nach dem Soziologen Stuart Hall in sozialen Praxen des Othering produziert.

Derzeit zeigt sich dies, indem ukrainische Geflüchtete im aktuellen Diskurs zu einem "Wir" dazugezählt und anders behandelt werden als Geflüchtete aus dem globalen Süden. Die Praxis des Othering impliziert, dass Menschen aufgrund der geographischen Ferne und damit einhergehenden zugeschriebenen (kulturellen) Eigenschaften und der "nicht-Nachbarschaft" weniger Recht auf Asyl hätten. In der Berichterstattung und der Politik finden sich teils offen-rassistische Aussagen wieder. Etwa, wenn der österreichische Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) zwischen "klassischen Flüchtlingen" und "Europäern" unterscheidet. Der österreichisch-afghanische Journalist Emran Feroz berichtet, dass in den Medien oft Ähnliches angedeutet wird: Dass Geflüchtete aus der Ukraine im positiven Sinne "anders" ("hellhäutig", "christlich", "zivilisierter") seien als jene, die in den vergangenen Jahren gen Europa gekommen sind. Feroz selbst wird in letzter Zeit vermehrt mit Nachrichten bedrängt, die darauf hinauslaufen, die "heldenhaften Ukrainer" gegen die "feigen Afghanen" auszuspielen. Gleichzeitig finden Othering-Prozesse auch gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern statt. Dieser Diskurs muss strikt abgelehnt werden.

Ebenso spielen Rassismus und Antiziganismus im unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine eine zentrale Rolle. An der ukrainisch-polnischen Grenze waren Romnja und Roma und Schwarze Menschen der Willkür und dem Racial Profiling der polnischen Grenzpolizei ausgesetzt. Und was macht das, wenn Jugendliche Bilder der polnischen-ukrainischen Grenze sehen, an der Menschen begrüßt werden, im Vergleich zu Bildern der polnisch-belarussischen Grenze, an der Menschen aus Irak, Afghanistan und Syrien, etc. in einer humanitären Katastrophe gefangen sind?

Zuletzt zeigt sich der Rassismus auch im deutlichen Umschwung der österreichischen und europäischen Asylpolitik. Denn mit der erstmaligen Umsetzung der Europarat-Richtlinie für vorübergehenden Schutz (bestehend seit 2001) sind Österreich und alle anderen EU-Staaten nun in der Pflicht, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen und Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt zu gewähren. In der Praxis bedeutet das, dass Geflüchtete, im Gegensatz zu Geflüchteten, die 2015 nach Österreich gekommen sind, in den ersten Tagen privat unterkommen können, nicht im EU-Ersteinreiseland bleiben müssen, direkt einen Status  erhalten und sich frei bewegen und arbeiten dürfen.

Das ist notwendig und richtig, denn ein unbürokratischer Prozess, ein Leben mit weniger Unsicherheit über den Ausgang des Bleiberechts und die Möglichkeit, kostenlos öffentlichen Verkehr nutzen zu können, erleichtert den Menschen, Fuß zu fassen. In der Regel bekommen Drittstaatsangehörige aus der Ukraine, im Gegensatz zu ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, kein automatisches Aufenthaltsrecht in Österreich. Was signalisieren diese selektive Solidarität, die ungleichen Behandlungen und neue Trennlinien in der Asylpolitik jenen, die all das bisher in Österreich nicht erlebt haben? Was könnten Auswirkungen auf Jugendliche mit Fluchterfahrung sein, wenn sich einseitig mit bestimmten Geflüchteten solidarisiert wird?

Was das für Jugendliche bedeutet

Dass es herausfordernd ist, mit dem Thema Krieg in der Schule umzugehen, insbesondere, wenn er vor der Haustüre wütet, ist selbsterklärend. Womit sich die Bildungsarbeit auch in Zukunft noch verstärkt beschäftigen muss, ist, wie Retraumatisierungen vermieden werden können, wenn das Thema Krieg angesprochen wird. In diesem Artikel liegt das Hauptaugenmerk darauf, dass Formen des Othering von Jugendlichen verinnerlicht werden. Dazu muss betont werden, dass in letzter Zeit eine beeindruckende Solidarität zwischen jungen Menschen mit unterschiedlichsten Migrationserfahrungen gelebt wird. Gleichzeitig beginnen sich manche die Frage zu stellen, warum sie ungleich behandelt werden. Sie fragen: "Warum durfte ich nicht sofort ins Gymnasium?" "Ist es, weil ich ein Kopftuch trage oder weil ich nicht weiß bin?"

Auch wenn dies nicht direkt ausgesprochen wird, kann sich die Praxis der Ungleichheit unbewusst auf das Selbstwertgefühl auswirken. Hierbei können sich neue Konstruktionen von "Wir" gegen "die Anderen" festschreiben, die Bildung von Bündnissen erschweren. Dass sich Ausschlusserfahrungen in der Biografie von jungen Menschen nicht empowernd auswirken, ist unschwer zu erkennen. Die Politik in Österreich, das selektive Schulsystem, der rassistische Diskurs – dadurch werden Jugendliche geprägt und machen negative Sozialisationserfahrungen. Junge Menschen mit Migrationshintergrund werden in Österreich schon früh zu Anderen gemacht und lernen, sich nicht zugehörig fühlen zu dürfen.

(Rechts)extreme Gruppen nutzen diesen Umstand zu ihren Gunsten aus. Das haben wir in den letzten Jahren etwa gesehen, als die Grauen Wölfe verstärkt in der Jugendarbeit aktiv wurden und dort ihre Ideologie der Ungleichheit verbreiteten. Die Aktualität des Plädoyers der Journalistin und Lehrerin Melisa Erkurt für eine Schule, die allen eine Stimme gibt, zeigt sich derzeit deutlich.

Solidarität schüren: Wie wir mit der Situation umgehen könnten

Um einer auf allen Ebenen solidarischen Gesellschaft näher zu kommen, braucht es eine starke Haltung, um dem rassistischen Diskurs etwas entgegenzusetzen! Das fordern wir in erster Linie, weil wir uns für eine menschenfreundliche und gerechtere Welt einsetzen, aber auch, um mit dem Blick in die Zukunft gegen weitere Ideologien der Ungleichheiten vorzugehen!

Wie kann also Solidarität in der Arbeit mit jungen Menschen aussehen?  Dreh- und Angelpunkt für eine gute Bildungsarbeit ist eine respektvolle und empathische Beziehung zwischen Kindern, Jugendlichen und den erwachsenen Betreuungspersonen. Voraussetzung ist dabei eine klare Positionierung gegen Praxen der Ungleichheit, Ablehnung und Exklusion. Lehrerinnen und Lehrer müssen daher vor den Schülerinnen und Schülern aussprechen, dass alle willkommen und erwünscht sind. Gleichzeitig müssen wir in der Schule Rassismus erkennen und benennen können und anschließend Handlungsoptionen dagegen formulieren. Dazu braucht es verstärkt rassismuskritische Schulungen für Pädagoginnen und Pädagogen. Außerdem soll die schon gelebte Solidarität zwischen den Schülerinnen und Schülern von Lehrkräften gefördert und bestärkt werden. Es braucht Räume, um sich über die bereits bestehenden Formen der Solidarität in der Praxis auszutauschen. Des Weiteren dürfen Ausschlusserfahrungen, die Jugendliche durchmachen, nicht relativiert oder abgesprochen werden. Wir müssen ins Gespräch kommen und Gegenerzählungen zur positiven Identifikation anbieten. Beispielsweise kann davon erzählt werden, dass ein oberösterreichischer Friseur, der vor ein paar Jahren aus Syrien geflüchtet ist, ukrainischen Geflüchteten gratis die Haare schneidet. Oder, dass ein Teil der ehrenamtlichen Personen in der Flüchtlingshilfe oft selbst Migrationserfahrung hat und es generell sehr viel Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft gibt.

Hier stehen auch die Medien in der Verantwortung, nicht nur kurzfristig, sondern nachhaltig über die verschiedenen Solidaritäten in der Gesellschaft zu berichten und mit positiven Rollenbildern den Diskurs zu prägen. Schließlich müssen wir den Moment erkennen, Empathie gegenüber allen Geflüchteten zu erzeugen. Egal ob aus der Ukraine, oder anderen Teilen der Erde. Dazu braucht es den politischen Willen, erleichterte rechtliche Zugänge für alle Geflüchteten zu schaffen. (Hanna und Paul Grabenberger, 30.5.2022)

Hanna Grabenberger hat Lehramt studiert, ist Jugendarbeiterin und unterrichtet am Jugendcollege/ Interface Wien. Sie ist FIPU-Mitglied, studiert Religionswissenschaft und ist in der Migrationspädagogik, Gedenkstättenpädagogik sowie antisemitismuskritischen Bildungsarbeit tätig. 

Paul Grabenberger arbeitet in Brüssel in der politischen Kommunikation und Museumspädagogik (Europäisches Parlament / Haus der Europäischen Geschichte). Er studierte Konfliktlösung und Anthropologie und setzt sich mit Projekten wie Open Piano for Refugees oder Mehr als Flucht für eine gerechte Asyl- und Migrationspolitik ein.

Wir bedanken uns herzlichst für das Feedback von den Schüler:innen Noah, Sam und Tony!

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