Im Gastblog gibt der Nachhilfelehrer Rainer Saurugg Einblick in die Beispiele der Mathematik-Matura.

So wie jedes Jahr twitterte Armin Wolf auch diesmal ein paar Beispiele aus der aktuellen AHS-Mathematik-Matura. Natürlich gesellten sich die klassischen Kommentare dazu: a) ob man das überhaupt (noch) braucht, b) wie eigentlich leicht und logisch alles sei und c) wie es denn damals bei der eigenen Matura so viel anders und schwerer gewesen sei.

Beispiele der Mathe-Matura.
Quelle: Twitter @ArminWolf

In knapp 16 Berufsjahren als leidenschaftlicher Nachhilfelehrer habe ich natürlich viel gesehen und viel erlebt, vor allem aber den Umstieg von Matura "alt“ auf Matura "neu" im Gymnasium. Viele Kommentierende, ob auf Armin Wolfs Twitter Account oder hier im STANDARD, haben ihre alte Mathe-Matura als einen Batzen Arbeit in Erinnerung. Da gab es eine gute Handvoll knackiger Beispiele mit mehreren Unterpunkten, die auf etlichen A4-Seiten schriftlich zu lösen waren. Mit einem simplen TI-30 und einem Lineal als technische Hilfsmittel.

Wie ist die Mathe-Matura aufgebaut?

Wenn diese Generation, also die Eltern meiner Schüler und Schülerinnen, heute ein paar (Typ-1) Ankreuzbeispiele unter dem Titel "Das war die Mathe Matura 2022…" sieht, muss ja zwangsweise der Eindruck entstehen, dass das heutzutage "sowieso viel zu leicht und hinterhergeschmissen" ist. In Wahrheit wissen die wenigsten wirklich Bescheid, wie die aktuelle Matura aufgebaut ist und wo vor allem die Herausforderungen in der Vorbereitung liegen. Und das ist ja mein berufliches Kerngebiet!
 
Die aktuelle Matura besteht aus zwei Teilen: Teil 1 besteht aus 24 Typ-1 Beispielen (sogenannten Grundkompetenzen) zu je einem Punkt. Teil 2 besteht, vereinfacht gesagt, aus vier Vernetzungsbeispielen, die gesamt zwölf Punkte wert sind. 36 Punkte gesamt, ab 17 Punkten winkt ein Genügend.

Im Gegensatz zur alten Matura decken diese 24 Typ-1 Beispiele sämtliche Grundkompetenzen der gesamten Oberstufe ab. Und zwar in unterschiedlichen Design-Varianten: Ankreuzen ("2 aus 5" oder "1 aus 6"), Zuordnen, Lückentexte etc. Der Punkt ist aber, dass erstens das Wissen aus nahezu allen Stoffgebieten aus vier Schuljahren gefragt ist und zweitens jede Grundkompetenz in unterschiedlichen Varianten abgefragt werden kann. Es reicht also nicht, von allem ein bisschen zu wissen. Man muss überall die Zusammenhänge kennen und verstehen, damit man die Beispiele von allen Seiten her lösen kannst. Und ja: manchmal sind diese Beispiele verlockend einfach und ein anderes Mal echt fordernd.
 
Und da sind wir ja schon beim nächsten Punkt angelangt: Die Meinung von Erwachsenen, die oft eine Affinität zu MINT-Fächern haben, samt deren persönlicher Einschätzung ist für mich als Mann der Praxis, der tagtäglich mit jungen Menschen arbeitet, höchst relativ. Mit Mitte 40 würde ich mir mit der Deutsch-Matura auch leichter tun (oder zumindest würde ich es mir einbilden), als mit 18. Da spielen die Lebenserfahrung eine Rolle, wie auch der Umgang mit Prüfungssituationen.

Verständnis- und Anwendungswissen

Im Grunde genommen ist so eine Grundkompetenz nichts anderes als eine Art Verständnisbaustein, manchmal auch ein praktischer Handgriff. Im besten Fall ist es wie Fahrradfahren: Verlernt man nicht mehr, geht auch bei Regen und Gegenwind. Aber erst durch zielgerichtetes Üben kann dieses Verständnis- und Anwendungswissen gefestigt werden. Da die AHS-Oberstufe aber zig von diesen Grundkompetenzen beinhaltet, die immer wieder "zur Sicherung der Nachhaltigkeit" bei allen Schularbeiten auftauchen, und unsere Schüler und Schülerinnen neben Mathematik auch noch andere Fächer haben, sprechen wir hier von einem Haufen Arbeit aus der Perspektive junger Menschen.
 
Die Generation der Matura "alt" kennt diese Systematiken nicht. Sie haben zum Beispiel damals gelernt, quadratische und andere Gleichungen nach Kochrezept zu lösen, mussten aber nie Verständnisfragen dazu beantworten. Das gleiche gilt für das Schneiden von Geraden und Ebenen im Raum wie auch das Rotieren von Ellipsen mit eingeschlossenem flächengrößten Zylinder. Und auch der Weg bis zur Matura war gewissermaßen klarer oder zumindest einfacher gestrickt. Die Schularbeiten bestanden aus Beispielen der vergangenen Wochen, also das "was wir gemacht haben". Heute besteht zum Beispiel eine Schularbeit in der siebten Klasse nur zu einem Drittel aus dem aktuelle Stoff. Die anderen zwei Drittel sind Wiederholungen von Grundkompetenzen der vergangenen drei Jahre. Und das wird zur Herausforderung für unsere Schüler und Schülerinnen. Der Zugriff auf uns Nachhilfelehrer ist spätestens dann zu verstehen, wenn in der Schule schlichtweg keine Zeit vorhanden ist, alles wieder durchzukauen. Nötig wäre es aber.

Und klar: Spätestens jetzt denken wieder einige, dass es vollkommen logisch und normal sei, dass früherer Stoff weiterbehalten werden müsse. Der Punkt ist aber ein anderer: Früher war der Sinn des Lösens quadratischer Gleichungen ganz einfach die Anwendung, wo auch immer nötig (zum Beispiel zur Berechnung der Nullstellen). Heute wird das 360-Grad-Verständnis-Wissen von ein und demselben Stoffgebiet zum faktischen Selbstzweck. Das kann man gut anhand folgender früherer Typ-1 Beispiele erkennen.

Nicht das Rechnen, sondern das Verständnis steht im Vordergrund.
Quelle: AHS Aufgabenpool (www.aufgabenpool.at/ahs)
Ein 360-Grad-Verständnis ist bei jeder Grundkompetenz nötig!
Quelle: AHS Aufgabenpool (www.aufgabenpool.at/ahs)

Perspektive junger Menschen

Seit Einführung der Zentralmatura ist es als Nachhilfelehrer mein Job, junge Menschen so gut wie möglich auf eine Fülle von Grundkompetenzen und ihre mitunter verwinkelten Varianten vorzubereiten. Ach ja: Da gab es ja auch noch Typ-2 Beispiele, also jene Aufgaben, die im Angabenheft ganz hinten zu finden sind. Da sollen unsere Maturanten und Maturantinnen ihr Wissen und ihre erworbenen Kompetenzen anwenden. Davon wird aber fast nie berichtet, wobei das ja am ehesten der Idee von "großen" Beispielen nahekommt. Und auch bei mir im Nachhilfeunterricht kommen diese Beispiele aus Zeitmangel zu kurz: Es gibt ja wichtigeres zu tun...
 
Mein Vorschlag: Wir sollten die AHS-Matura wie auch den Weg dorthin als Ganzes erkennen und verstehen lernen und nicht nur einzelne (Typ-1) Beispiele durch den Kakao ziehen. Und mit ein wenig Empathie gelingt es vielleicht auch, das Ganze aus der Perspektive 18-jähriger junger Leute zu sehen. Könnte vielleicht nicht schaden!

Tipp an Lehrkräfte, Eltern, Schüler und Schülerinnen

Ein kleiner Geheimtipp für Eltern, deren Kinder die AHS-Oberstufe und Matura noch vor sich haben: Der Grazer Lehramtsstudent Tizian Joseph Ruckenbauer sammelt, ordnet und löst alle früheren knapp 900 (!) Typ-1 Beispiele in seinem Buch "Mathematische Grundkompetenzen", welches für mich zur "Bibel" geworden ist. Leider wird diese geniale Sammlung zum Üben und Festigen viel zu selten von Lehrkräften empfohlen. Sei es aus Unwissenheit oder aktiver Ignoranz. Es müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, gutes und vor allem zielgerichtetes Übungsmaterial seinen Schülern und Schülerinnen zugänglich zu machen. Vor allem dann, wenn in den wenigen Schulstunden fürs Üben eh nie wirklich Zeit ist. (Rainer Saurugg, 27.5.2022)

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