Kinder leben intuitiv sinnvoll. Im Laufe des Lebens können wir das durch die Gesellschaft verlernen, sagt Psychologe Alfried Längle.

Foto: Regina Längle

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist außerhalb von Krisenzeiten schon schwierig zu beantworten: "Sie ist so umfassend, dass sie nicht einfach für jeden beantwortet werden kann und auch nicht für einen selbst", sagt Alfried Längle, Gastprofessor an der Sigmund-Freud-Universität in Wien.

In Krisenzeiten wird das besonders deutlich – aber nicht für alle gleichermaßen: "Die Sinnfrage ist eine Frage für jeden Menschen, aber sie ist nicht unbedingt ein Problem für jeden Menschen", sagt Längle. Woran liegt das? Wie kommt man individuell und kollektiv besser durch Krisenzeiten? In einer interaktiven Vortragsreihe der Sigmund-Freud-Privatuniversität unter dem Titel "Krise als Daily Business" sprechen Vordenkerinnen und Experten über Fragen wie diese – denn die wichtigste Aufgabe der Gesellschaft sei es, "sich im Dialog auszutauschen", sagt Längle.

STANDARD: Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann nicht beantwortet werden, sagen Sie. Nie? Kann man sich im Laufe des Lebens der Antwort annähern?

Längle: Man kann sie nicht ein für alle Mal beantworten. Eigentlich sind es zwei Fragen: Zum einen geht es um den existenziellen Sinn – also jenen Sinn, den ich heute im Leben sehe und erlebe und verwirkliche. Zum anderen geht es um den Sinn des Lebens als Ganzes – darüber können wir spekulieren oder von den Religionen Antworten bekommen.

Den letzten Sinn können wir nicht wissen, aber – und das ist die große Aufgabe – wir können uns angesichts der letztlichen Unbeantwortbarkeit dieser Frage trotzdem im Hier und Jetzt und heute so verhalten, dass wir unser Leben als sinnvoll erleben. Etwa weil wir konstruktiv etwas gestalten oder uns Zeit nehmen für Werte.

STANDARD: Wir können das Leben also "nur" als sinnvoll erleben, aber nie den Sinn des Ganzen finden. Das klingt etwas frustrierend.

Längle: Wenn wir das Leben nicht als sinnvoll erleben können, hat alle Spekulation darüber wenig praktischen Wert.

Genau das ist auch die Aufgabe einer existenziellen und sinnorientierten Psychotherapie: Menschen da hinzubringen, dass sie sich und ihrer Wahrnehmung und ihren Gefühlen vertrauen und auf dieser Basis ihre Entscheidungen treffen. Dann können wir Menschen unser Leben als sinnvoll erleben.

STANDARD: Sie sprechen von Psychotherapie als einem Weg zur Sinnfindung. Braucht jeder Mensch irgendwann Therapie, um das Leben als sinnvoll zu erleben?

Längle: Die Sinnfrage ist eine Frage für jeden Menschen, aber sie ist nicht unbedingt ein Problem für jeden Menschen.

Kinder haben eine intuitive Begabung, Sinn zu erleben. Heranwachsende bekommen den Sinn erst dann als Problem zu spüren, wenn etwas nicht stimmt, wenn sie zu wenig Liebe erleben, wenn sie verletzt sind, missbraucht werden. Dann ist die Orientierung im Leben gefährdet, da kommt die Sinnfrage auf. Das gilt auch für Erwachsene.

STANDARD: Kinder erleben das Leben intuitiv als sinnvoll, sagen Sie. Verlernen wir das beim Erwachsenwerden in unserer Gesellschaft?

Längle: Unsere Gesellschaft und die Erziehung können uns dazu bringen, dass wir von der intuitiven Sinnfindung abkommen. Die Gesellschaft kann uns aber auch in unserer intuitiven Sinnspur stärken, beides ist möglich.

Oft lernt man als Kind, Dinge tun zu müssen, die einen einfach nicht interessieren, deren Wert man nicht sieht, und man wird bestraft, wenn man dies nicht tut – etwa Schulaufgaben oder Ähnliches. Wenn man angeleitet wird, sich gegen den eigenen Willen, gegen das Werteempfinden zu verhalten, dann verlernen wir, dem intuitiven Sinngespür Folge zu leisten.

Unsere Gesellschaft ist stark auf Leistung fokussiert, weniger auf den Wert des persönlichen Erlebens. Sie fordert die Erfüllung von Kriterien und Anstrengung und fragt nicht sehr danach, wie es für den Einzelnen ist. Das mag produktiv sein für ein Unternehmen, aber der Einzelne kann unter die Räder kommen und sein Leben aktuell als ziemlich sinnlos erleben.

Es sind aber nicht nur gesellschaftliche Einflüsse, sondern auch Lebensereignisse: Die Trennung von einem geliebten Menschen kann das Leben ziemlich sinnarm machen.

STANDARD: Wie sieht eine Gesellschaft, die uns in der Sinnfindung bestärkt, aus?

Längle: Eine provokante Frage. Eine solche Gesellschaft ist geprägt von einem Verständnis für das, was Menschen bewegt, und einem Respekt vor der Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen. Das heißt: Der andere darf denken, fühlen, handeln und leben in einer anderen Art und Weise, als ich es tue, und ich habe kein Recht, von ihm was zu erwarten oder zu verlangen.

Unsere Aufgabe ist, uns im Dialog darüber auszutauschen, was der andere als wertvoll ansieht und was mir wertvoll und wichtig ist, und uns gegenseitig in unseren Ideen zu befruchten und auch zu korrigieren.

STANDARD: Corona, Krieg, Klimakrise – die globale Lage macht es vielen Menschen noch schwerer, einen Sinn zu sehen. Wie verändert sich unser Sinn durch Krisen?

Längle: Krisen sind Lebenssituationen, in denen Werte auf dem Spiel stehen und der weitere Verlauf der Entwicklung offen ist in Richtung Heilung oder Verlust.

Wenn wir sehen, wie brutal in relativer Nachbarschaft von uns Krieg geführt wird, dann erschüttert das, weil Krieg immer Verhalten ist, in dem die üblichen Werte außer Kraft gesetzt werden. Leben zählt nicht mehr, es wird getötet und zerstört. Es geht noch viel weniger gerecht als sonst zu.

Das kann uns am guten Glauben an die Menschheit zweifeln lassen, weil dieses Potenzial eben auch im Menschen drinsteckt. Praktisch jeder Mensch ist kriegsfähig oder kann in solche Situationen geraten.

Die Situation kann auch Angst machen: Wo, wann, bei welchen Mitteln macht Putin halt? Zudem wird vieles teurer, manche können sich ihr bisheriges Leben nicht mehr leisten. Und dann stehen wir vor der Frage: Was ist jetzt für mich noch ein gutes Leben? Vielleicht kann ich das Auto nicht mehr benutzen, was mache ich dann? Für manche ist das bereits eine Krise, für manche nur ein Erschwernis.

STANDARD: Ist der Sinn des Lebens also auch eine Frage der Privilegien?

Längle: Interessanterweise nicht so sehr. Bildung kann helfen oder eben nicht. Sinn ist zum Glück etwas, wofür man kein Universitätsstudium braucht, um ihn finden zu können.

Als Menschen sind wir spontan, intuitiv und empfindlich. Wir spüren einfach, ob es sinnvoll ist, in der Beziehung oder in der Arbeit zu bleiben, oder ob man etwas ändern sollte. Und dann geht es um die Frage: Habe ich nicht nur den Mut, sondern auch die Mittel und Möglichkeiten, etwas zu ändern? Aber der Sinn ist nicht von Privilegien abhängig, der Sinn ist einzig abhängig von der persönlichen Wahrnehmung, Offenheit, Entschiedenheit und Erlebnisweise.

STANDARD: Krisen lassen am guten Glauben in die Menschheit zweifeln, sagen Sie. Halten Sie trotz allem daran fest?

Längle: Es ist naiv zu glauben, dass Menschen einfach immer gut sind. Das glaube ich nicht. Aber ich bin fest überzeugt – und davon rücke ich auch jetzt angesichts des Krieges nicht ab –, dass die Menschen die Möglichkeit zum guten Handeln haben, auch wenn wir zwischendurch etwas verbocken. Diese Möglichkeit ist immer offen, und die gilt es zu stärken. Das ist die große Aufgabe im Miteinander, und dafür braucht es Dialog, Dialog, Dialog.

Ohne Gespräch gibt es keinen Frieden. Ohne Gespräch kommen wir nicht aus den Krisen heraus. Wir brauchen das Abstimmen der Werte und das Respektieren der Unterschiedlichkeit, aber auch die Verteidigung der eigenen Grenzen. Meine Werte, das mir Wichtige soll ich schon schützen.

STANDARD: Was, wenn das Gegenüber nicht zum Dialog bereit ist?

Längle: Es stimmt, für den Dialog braucht es zwei. Es kommt auch in Beziehungen vor, dass ein Partner nicht mehr bereit ist, mit dem anderen zu reden.

Der Friede beginnt zu Hause: Wenn wir uns die Mühe nehmen, einander zuzuhören – auch, wenn der andere eine Meinung vertritt, die ich überhaupt nicht teilen kann – und versuchen zu verstehen, warum ihm das so wichtig ist.

Wenn wir hier Dialog vermeiden, haben wir Krieg in der Familie. Wenn wir das aber aushalten, was der andere für einen Blödsinn sagt, und dabei versuchen zu verstehen, dann schafft das eine minimale Basis, wo sich ein Dialog weiter entspinnen kann. Wenn der Dialog nicht mehr funktioniert, sprechen die Waffen. Wo Dialog endet, kommt Krieg. Im Privaten sowie im Politischen. (Magdalena Pötsch, 24.5.2022)