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Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr. Das alte Sprichwort ist auch heute noch aktuell. Vor allem wenn Bezugspersonen überlastet und gestresst sind, kommt es zu Konflikten mit den Kindern.

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Schon fünfmal hat man das Kind gebeten, nun endlich seine Schuhe anzuziehen, weil man das Haus verlassen möchte. Doch diese Bitte wird konsequent ignoriert. Stattdessen sitzt es noch immer in seinem Zimmer und spielt Lego. Und dann passiert es: Man spricht als Mutter oder Vater einen "Wenn-dann"-Satz aus. Man droht. Man zeigt, dass man am längeren Hebel sitzt, dass es Konsequenzen gibt für sein Verhalten. Und wenn das nicht klappt, wird man laut, man schimpft und schreit. Eine Konfliktsituation, die viele Eltern kennen – und nicht besonders mögen. Klar, wer ist denn gerne der gemeine Vater oder die gemeine Mutter? Hinterher bereut man als Erwachsener das Gesagte dann oft und fragt sich: "Aber was hätte ich denn sonst machen sollen?"

Fest steht: In den letzten Jahren sind unzählige Buchtitel wie "Die Schimpfdiät", "Mama, nicht schimpfen" oder "Wenn du mit mir schimpfst, kann ich mich nicht leiden, Mama" erschienen. Allesamt Bestseller.

Im Gespräch erklärt Sandra Teml-Jetter, selbst Mutter und Eltern- und Familientherapeutin, wie Mama und Papa in Stresssituationen und in herausfordernden Trotzphasen ruhig bleiben können und welche Alternativen es zu Schimpfen und Drohen gibt.

STANDARD: Zuerst sagt man dem Kind höflich und ruhig, dass es den kleinen Bruder nicht schubsen soll, dann zunehmend grantig, und am Schluss droht man: "Wenn du das noch einmal machst, nehme ich dir dein Spielzeug weg!" Gibt es auch eine andere Möglichkeit solche Situationen zu lösen?

Teml-Jetter: Um Fragen wie diese beantworten zu können, müssen wir uns immer den Kontext der Situation ganz genau anschauen. Denn leider gibt es auf diese allgemeine Frage am Ende nur sehr persönliche Antworten. Aus diesem Grund konstruiere ich hier ein Geschwisterpaar im Alter von zwei und vier Jahren – denn das Alter und auch der Altersunterschied machen hier einen großen Unterschied.

Wer mich und meine Arbeit kennt, der kommt auch nicht an den Kreisen vorbei. Das heißt: Ich lade Eltern ein, sich rund um sich und rund um ihre Kinder jeweils einen Kreis als Symbol für die eigenen und die Grenzen der anderen vorzustellen. Jede und jeder steht also in seinem oder ihrem eigenen Kreis, seinem oder ihrem Garten. Und – da hat die Mutter recht – ein nichtkonsensuales, ungeladenes oder sogar gewaltvolles Eindringen in den Kreis des anderen ist verboten. Leider macht die Mutter in unserem Beispiel eben das: Sie versucht das Problem auf der gleichen Ebene zu lösen, auf der es entstanden ist. Sie möchte ihren Sohn raus aus dem Kreis seines Bruders bewegen, indem sie in seinen Kreis hineinsteigt. Auf die erlebte Grenzüberschreitung wird der Sohn nun stärker reagieren als auf den durchwegs schlauen Inhalt der Mutter.

Wesentlich ist, dass wir aus unseren Fehlern lernen, mit unseren Kindern darüber reden, uns entschuldigen können und Besserung leben. Weil wir erst durchs Elternsein lernen, Eltern zu sein.

STANDARD: Nämlich wie?

Teml-Jetter: Aus der nun entstehenden Hilflosigkeit, weil hier schon alles buchstäblich verrückt ist und niemand mehr alleine in seinem Kreis steht, geht die Eskalationsstufe noch eins höher, und die Mutter in unserem Beispiel beginnt nun, ihre Macht über das Kind auszuüben, indem sie ihre Empathiefähigkeit antisozial einsetzt: Sie weiß, wie sie dem Kind Leid oder Schmerz zufügen kann, weil sie weiß, was ihrem Sohn wirklich wichtig ist. Sie droht damit, ihm genau das wegzunehmen, um zu erreichen, was sie will. Diese Mutter droht nicht Konsequenzen für sein Verhalten an. Diese Mutter macht Angst und spielt ihre Macht und Überlegenheit aus. Diese Mutter erpresst emotional. Und es funktioniert. Der Sohn wird wahrscheinlich sein Spielzeug retten wollen – aber seine Würde und sein Vertrauen in seine Mutter langfristig verlieren.

STANDARD: Wie vermittelt man als Eltern, dass ein Verhalten Konsequenzen hat, ohne Angst zu machen?

Teml-Jetter: Wir können als Eltern unsere Kinder auf mögliche Konsequenzen ihres Verhaltens aufmerksam machen. Etwa: "Wenn du deinen Bruder schubst, wird er hinfallen und sich wehtun!" Oder wir beziehen die Kinder in unsere Entscheidung ein, die wir aufgrund unserer Überlegungen und Erfahrungen treffen: "Wenn du dich so ärgern musst über deinen Bruder, dann gehe ich mit ihm auf die Schaukel und werde Papa bitten, uns abzuholen. Es ist besser, wenn wir uns heute ein wenig aus dem Weg gehen!"

Und auch hier: Achtung – und das bringt mich zu einem nächsten, sehr wichtigen Punkt –, diesen letzten Satz kann man mindestens auf zwei Arten interpretieren. Dazu müssen wir uns in den Geist dieser Mutter hineinwagen und uns fragen: Wie meint sie das? Die Mutter, die ich beim Schreiben im Sinn hatte, hat ein zugewandtes, freundliches Gesicht und spricht voller Liebe. Sie spricht keine Drohung aus. Sie trifft bloß eine kluge Entscheidung.

STANDARD: Und wenn man es mit freundlichem Gesicht sagt und voller Liebe spricht, dann hört das Kind eher zu?

Teml-Jetter: In dem von Ihnen genannten Beispiel konstruiert die Mutter ein Dramadreieck: Ein Kind ist Täter, ein Kind ist Opfer, und sie selbst wird zur – vermeintlichen – Retterin anstatt zur Vermittlerin. Besser ist es, sich in den Geist des schubsenden Bruders hineinzuversetzen, ihn zu "lesen", um herauszufinden, warum er tut, was er tut, was er im Sinn hat, was seine Motivation ist. Und dafür müssen wir ihm Worte geben, damit er lernt, seine Körpersprache (wie das Schubsen) in Worte zu übersetzen. Dem Jungen in meinem Bild ist langweilig – und deswegen schubst er seinen Bruder. Wenn ich das als Mutter sehe, in meinem Kind lese, dann kann ich mich darauf beziehen und so dem Dramadreieck entkommen: "Dir ist langweilig, und du schubst deinen Bruder. Und schon ist was los! Wollen wir schauen, ob auf dem anderen Spielplatz mehr Kinder sind?"

So finden beide Kinder Worte für das, was gerade vor sich geht. Niemand ist gut oder böse. Hier gibt es viel Kontakt und Beziehung. Und das wiederum gelingt nur, wenn es der Mutter gelingt, einmal durchzuatmen, sich zu beruhigen und hinzuschauen, was los ist. Wenn sie von der Retterin zur Übersetzerin wird, wenn sie langsam wird, obwohl sie inneren Druck oder Stress spürt.

STANDARD: Sie haben gesagt, das Alter der Kinder mache je nach Konfliktsituation und Lösungsfindung einen Unterschied. Ist für ein dreijähriges Kind ausgeschimpft zu werden schlimmer als für einen 13-jährigen Teenager?

Teml-Jetter: Nein. Ein Teenager kann sich aber zunehmend abwenden, sich aus Abhängigkeiten befreien. Das kann ein Dreijähriger nicht.

STANDARD: Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es, dass "die Zufügung körperlichen und seelischen Leides unzulässig ist". Kann man dem Kind mit Schimpfen und Drohen schon seelisches Leid bereiten?

Teml-Jetter: Ja, weil es sich hier um Machtausübung und emotionale Erpressung handelt und es mit einer Haltung von oben herab und Bewertung verbunden ist. Es ist keine Führung und Leitung auf Augenhöhe. Ein Elternteil, das droht, denkt in diesem Moment auch nicht gut über das eigene Kind. Hier ist kein Platz für Wohlwollen. Das tut weh – in jedem Alter eines Kindes.

STANDARD: Wie sieht es in Situationen aus, die wirklich gefährlich sind – etwa dass man bei Rot nicht auf die Straße laufen darf. Sollten Eltern da nicht laut werden, um dem Kind den Ernst der Lage zu verklickern?

Teml-Jetter: Ich gehe davon aus, dass Eltern diese Situation schon im Vorfeld mit ihren Kinder bereden, Bücher dazu anschauen, sie beim Überqueren der Straße anleiten. "Wenn du auf die Straße läufst, dann ist das richtig gefährlich!" Das ist ein Hinweis auf eine logische Konsequenz, die auf eine Handlung folgt. Das ist keine Drohung – das ist das Wissen, das wir unseren Kindern zur Verfügung stellen. Und sollte das Kind einmal zu schnell mit dem Roller auf die Straße zurollen, dann gehe ich davon aus, dass die Eltern laut werden – weil sie sich erschrecken. Und auch das ist kein Drohen.

STANDARD: Das Familienministerium hat auf der Website gewaltinfo.at definiert, was gewaltfreie Erziehung bedeutet. Unter anderem steht dort geschrieben, dass man dem Kind auch Grenzen setzen soll und "gewaltfreie Strafen" erlaubt sind. Was wäre denn eine gewaltfreie Strafe?

Teml-Jetter: Ich kenne keine gewaltfreie Strafe. In meinen Ohren klingt das wie ein eckiger Kreis. Das gibt es in meinem Paradigma nicht.

STANDARD: Wo ist der Unterschied zwischen gewaltfreier Erziehung und antiautoritärer Erziehung?

Teml-Jetter: Viele Eltern, die antiautoritär sein wollten oder wollen, trauen sich nicht mehr zu führen. Das ist ein grobes Missverständnis. Wer eine Autorität sein will, muss anleiten und auch aus bestem Wissen und Gewissen in Führungssituationen sagen, wo und wie genau es langgeht. Das ist wie beim Bergsteigen: Auf der Wiese ist Spielen erlaubt – wenn es in den Steig geht, dann sage ich, wo und wie es langgeht, weil ich hier schon gegangen bin. Ich zeige dir das so oft und so lange, bis du es selbst kannst und schließlich alleine den Berg hinaufgehen kannst. Das ist Erziehung. Das ist immer auf Augenhöhe.

STANDARD: Der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul hat gesagt, dass die Erwachsenen bei einem Konflikt mit den Kindern immer die volle Verantwortung tragen. Wie ist das gemeint? Wenn mein Kind jeden Tag beim Zähneputzen protestiert, ich mich aber trotz Geschreis durchsetze, dann bin ich nicht konsequent, sondern selbst schuld?

Teml-Jetter: Eltern haben die Verantwortung für die Qualität der Beziehung. Wenn das beim Zähneputzen so ist, dann liegt es an der Führung, an der Art der Anleitung. Kooperation wird von Kindern dann verweigert, wenn es zu schnell geht und wenn wir keinen Kontakt zu ihnen haben, sie eigentlich noch ganz woanders sind. Ohne Kontakt keine Führung. Ohne Kontakt zu uns selbst kein Kontakt zu anderen. Wenn wir gestresst sind, geht gar nichts mehr. Wenn ich mich nun als Mutter oder Vater trotzdem durchsetze, dann ist es ein gewaltvoller Kreisübertritt, gegen den sich das Kind dann wehrt. Und gegen das Zähneputzen auch.

STANDARD: In Ihrem Buch "Mama, nicht schreien" erklären Sie, wie Eltern in Konfliktsituationen mit den Kindern "erwachsen" denken. Was heißt das, und warum ist es so wichtig?

Teml-Jetter: Das bedeutet, dass sich Eltern in Konfliktsituationen ihres eigenen Zustands bewusst werden mögen: Bin ich überhaupt in der Lage, jetzt etwas Sinnvolles zu tun, oder hat schon stress- oder angstbedingt mein Erziehungsautopilot übernommen, und ich höre mich an wie meine eigenen Eltern? Der Schlüssel liegt hier in der Selbstregulation: die eigenen Emotionen wahrnehmen, ihnen nicht die Regie übergeben und so auch das Kind mitregulieren. Das kann man üben.

STANDARD: Die Eltern selbst wollen meist ja auch nicht schimpfen, drohen, schreien. Im Alltag passiert es dennoch, weil sie im Stress sind oder zu wenig geschlafen haben. Wie schafft man es, in herausfordernden Situationen Ruhe zu bewahren?

Teml-Jetter: Wie gesagt: Das ist Übung. Und da darf man auch mal geduldig mit sich selbst sein. Vor allem wenn die Kinder klein sind, man selbst wenig geschlafen hat oder sich in Zeiten wie diesen einfach ängstigt. Wesentlich ist, dass wir aus unseren Fehlern lernen, mit unseren Kindern darüber reden, uns entschuldigen können und Besserung leben. Weil wir erst durchs Elternsein lernen, Eltern zu sein. Und sofern unsere Kinder in uns lesen, dass wir uns immer weiter selbst erziehen, sind sie uns gegenüber emotional auch sehr großzügig. (Nadja Kupsa, 5.6.2022)