Im Gastblog schreibt die Juristin Mirella Maria Johler, wie man den derzeit laufenden sozialmedizinischen Lernprozess konstruktiv gestaltet und Long-Covid-Patientinnen und Long-Covid-Patienten rehabilitiert.

Long Covid ist ein Sammelbegriff für Symptome, die drei Wochen nach einer Covid-19-Infektion bestehen bleiben oder neu auftreten. Post Covid wendet diese Definition auf den Zeitraum nach drei Monaten an. Long Covid und Post Covid werden allerdings synonym verwendet. Die internationale Forschung hat bereits Thesen zur Entstehung und Behandlung von Long Covid erarbeitet. Pilotversuche mit neuen Medikamenten weisen erste Erfolge vor. Dennoch werden Patientinnen und Patienten mit Long Covid oft falsch eingeordnet und dann falsch behandelt – in Selbsthilfegruppen berichten viele von einer Zustandsverschlechterung nach Reha-Aufenthalten. Haben Long-Covid-Patientinnen und -Patienten ein Recht auf eine angemessene Behandlung?

Was ist Long Covid?

Man spricht von Long Covid, wenn sich die Covid-Symptome vier bis sechs Wochen nach akuter Infektion nicht merklich verbessert haben oder neue Symptome dazugekommen sind. Zu den häufigsten Symptomen zählen Atemnot, Müdigkeit beziehungsweise Fatigue (schwere Erschöpfung), neurologische Beschwerden (Geruchs- und Geschmacksverlust, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel, Sprachstörungen, verminderte kognitive Leistungsfähigkeit), Belastungsintoleranz und gastroenterologische Probleme. Auch psychologische beziehungsweise psychiatrische Beschwerden können im Zuge einer Covid-19-Infektion neu auftreten oder sich verstärken. Die Schwere der Symptome reicht von kompletter Bettlägerigkeit bis zur leichten Vergesslichkeit oder Verlangsamung bei der Ausdauer.

Atemnot, schwere Erschöpfung, neurologische Beschwerden, Belastungsintoleranz und gastroenterologische Probleme zählen zu den häufigsten Symptomen bei Long Covid.
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Von Long Covid sind überwiegend die Altersgruppe der Mitte 20- bis 50-Jährigen sowie Kinder betroffen – genau jene Bevölkerungsgruppen, die zu Beginn der Pandemie als wenig vulnerabel eingestuft wurden. Gleichzeitig handelt es sich dabei um die arbeits- und reproduktionsfähigen Menschen der Gesellschaft. Nach unterschiedlichen Berechnungsmethoden leiden bis zu zehn Prozent der Covid-Genesenen an über drei Wochen hinausgehenden Symptomen.

Ursachen von Long Covid

Als Ursachen für Long Covid werden derzeit folgende Hypothesen diskutiert: anhaltende organische oder zelluläre Schäden durch die Covid-19-Infektion; Reaktivierung von im Körper schlafenden Viren/Bakterien (sogenannte chronische Infektionen, zum Beispiel Herpes, Epstein-Barr, Borreliose), anhaltendes Infektionsgeschehen durch Covid-19 ("Persistent virus"-Theorie) oder die Ausbildung von Autoimmunreaktionen mittels gegen eigene Merkmale gerichteter Autoantikörper und/oder autoreaktiver Immunzellen (Covid-19 als Ursache für Autoimmunerkrankungen).

Mit dem von Berlin Cures entwickelten Medikament BC007, das die Autoantikörper neutralisieren soll, wurden in einem Pilotversuch erste Long-Covid-Patientinnen und -Patienten geheilt. BC007 wartet derzeit auf die Finanzierung einer Studie zur Langzeitzulassung als allgemein verfügbares Medikament. Auch das antivirale Medikament Paxlovid, das in Österreich bereits auf Rezept erhältlich ist, scheint bei einigen Long-Covid-Patientinnen und -Patienten Linderung zu bringen. Dies ist ein Indiz für ein bei Long Covid andauerndes Infektionsgeschehen durch Covid-19. Auch die Impfung gegen Sars-CoV-2 reduziert den Prozentsatz der Long-/Post-Covid-Diagnosen nach einer Durchbruchsinfektion.

Mag das Beschwerdebild in sich heterogen sein, steht dennoch bei den meisten Long-Covid-Betroffenen die Belastungsintoleranz (Post-Exertional Malaise) im Zentrum: massive Leistungseinbußen, die alltägliche Arbeiten (Haus- und Gartenarbeit, Kinderbetreuung) und die Ausübung von Sport oder (körperlichen) Berufen verunmöglichen. Anstrengungen – auch klassisches Reha-Training – führen zu (krampfartigen) Zusammenbrüchen, die diese für mehrere Tage ans Bett fesseln. Nicht selten werden solche Anfälle von anhaltenden oder sich verschlimmernden Atembeschwerden begleitet. Durch solche Anfälle können sich neurologische Parameter und Fähigkeiten wie Sprechen oder Motorik (dauerhaft) verschlechtern (siehe dazu allgemeinverständliche Hinweise des Innsbrucker Neurowissenschafter Lars Klimaschewski).

Pacing als Empfehlung bei der Belastungsintoleranz

Für die Belastungsintoleranz nach Covid-19 werden durch das Virus verursachte Schäden im Gewebe, den Zellen und oder den Organen (Lunge, Herz, Leber) als ursächlich angesehen. Die Mitochondrien sind nicht mehr fähig, ausreichend Energie für Alltag, Arbeit und Sport bereitzustellen – der Zellstoffwechsel ist angegriffen. Durch Schäden an der Lunge sinkt die Sauerstoffsättigung im Blut. Die Durchblutung kann infolge von durch das Virus verursachten Mikrothromben gestört sein. Dazu kommen neurologische Probleme wie Entzündungen im Gehirn, den Nerven oder im Rückenmark. Letztlich fallen vermehrt endokrinologische Abweichungen auf. Diese Vorgänge lassen sich mit ausgewählten Laborparametern (zum Teil) auch schon nachweisen, weiß etwa der in Innsbruck tätige Immunpathologe Nikolaus Wick.

Bei der Belastungsintoleranz raten Long-Covid-Spezialistinnen und -Spezialisten wie der Wiener Neurologe Michael Stingl oder der Lungenarzt und Leiter der Rehamed Tirol, Christoph Puelacher, zum "Pacing": Betroffene sollten körperliche (und geistige) Anstrengungen so stark reduzieren, dass sie stets unter einer gewissen Belastungsgrenze (etwa einer bestimmten Herzfrequenz) bleiben. Damit sollen anfallsartige Atembeschwerden (Atemnot) und Zusammenbrüche vermieden werden. Der aus dem Englischen übernommene Begriff "Pacing" bedeutet eine (vor allem körperliche) Entschleunigung – Entschleunigung als Antwort auf die verminderte Sauerstoffsättigung im Blut und den Mitochondrien, die für den Energiestoffwechsel im menschlichen Körper verantwortlich sind.

Erfahrungen betroffener Patientinnen und Patienten

Die medizinische Empfehlung, die sich auch wissenschaftlich begründen lässt, scheint im Widerspruch zu den Erfahrungen einiger Patientinnen und Patienten zu stehen. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands von Long-Covid-Patientinnen und -Patienten nach der Reha ist eine weitverbreitete Beschwerde. Der Vorwurf lautet, dass das Reha-Programm nicht auf die Belastungsintoleranz Rücksicht genommen habe, das entsprechende Konzept als Einbildung der Patientinnen und Patienten abgetan und auf individuelle Rückmeldungen, dass das Programm zu intensiv sei, nicht gehört worden sei. Mit anderen Worten: Die an Leistung orientierte Reha scheint nach Covid-19 nicht zu funktionieren. In den Leitlinien zur Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien bei Long Covid wird allerdings bereits festgehalten, dass aktivierende Bewegung und Grundlagenausdauertraining nur nach individueller Verträglichkeit angebracht sind.

Ebenso oft berichten Patientinnen und Patienten von Ärztinnen und Ärzten, die die Genese von Long Covid – trotz inzwischen nachweisbarer immunologischer Parameter – noch nicht kennen. Die Kraftlosigkeit bei Long Covid wird etwa mit einer (bloßen) Depression verwechselt und den Betroffenen zu Ausdauersport geraten – ein Rat, der gerade bei Belastungsintoleranz und anhaltenden Atembeschwerden (Stichwort: Belastungsasthma) kontraproduktiv ist: Patientinnen und Patienten werden noch kränker. Das Krankheitsbild wird in der wissenschaftlichen Literatur zwischenzeitlich dem Autoimmunen/Autoinflammatorischen Syndrom induziert durch Adjuvantien (ASIA) zugeordnet, das jedoch in den Leitlinien und Lehrplänen noch unterrepräsentiert ist. Die für Ärztinnen und Ärzte bindende Aufnahme dieser Pathologien in die Behandlungen ist somit noch ausständig.

Aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte kommt erschwerend hinzu, dass einige der häufigsten Long-Covid-Symptome auch bei anderen Krankheiten auftreten können (zum Beispiel Anämie, Histaminintoleranz, respiratorische Allergien, Hormonstörungen, psychiatrische Erkrankungen). Ebenfalls denkbar ist, dass sich verschiedene Vorerkrankungen durch eine Covid-19-Infektion verschlimmern. Long Covid ist daher nicht nur ein Überbegriff für verschiedene Symptome, die nach einer Covid-19-Infektion wahrgenommen werden, sondern auch eine Ausschlussdiagnose.

Wissen frei verfügbar

In diesem Zusammenhang muss allerdings der Umstand hervorgehoben werden, dass das Wissen über Long Covid beziehungsweise die durch Covid-19 im menschlichen Körper verursachten Schäden frei verfügbar ist. Studien in medizinwissenschaftlichen Datenbanken wie PubMed sind zum Teil sogar kostenfrei einsehbar, führende Wissenschafterinnen und Wissenschafter, behandelnde Spezialistinnen und Spezialisten sind zudem oft in Medien- und/oder Youtube-Interviews zu finden. Aus rechtlicher Sicht stellt sich daher die Frage, ob Long-Covid-Betroffene ein Recht auf eine angemessene Behandlung (Behandlung lege artis) haben.

Recht auf eine angemessene Behandlung?

Gesetzlich (Vertragsrecht, Schadenersatzrecht und Ärztegesetz) und vor allem durch die Rechtsprechung haben sich Grundsätze herausgebildet, die allgemein für medizinische Behandlungen gelten: Erstens sind Patientinnen und Patienten vor der Behandlung über Risiken aufzuklären. Zweitens müssen Behandlungen nach dem aktuellen medizinischen Standard durchgeführt werden. Beides ist im Hinblick auf Long Covid schwierig. Die medizinischen Erkenntnisse sind im Fluss, täglich gewinnen wir neue. Einen konkreten Standard, der Long-Covid-Beschwerden kausal heilen könnte, gibt es leider noch nicht.

Allerdings können wir auf den allgemeinen Standard zurückgreifen: Was medizinisch erprobt ist und Erfolg verspricht, ist Patientinnen und Patienten grundsätzlich vorzuschlagen. Was Risiken birgt, ist transparent aufzuklären. Im Rahmen des Grundsatzes der Autonomie der Patientinnen und Patienten und des Nichtschadensprinzips ist dabei auch auf Beschwerdeschilderungen einzugehen: Berichtet jemand beispielsweise davon, dass im Nachgang einer Covid-19-Infektion bereits klein(st)e Anstrengungen zu Atemnot und körperlichen Zusammenbrüchen führen, ist diese Schilderung ernst zu nehmen und mit den wissenschaftlichen Studien zu Long Covid abzugleichen. Einer solchen Person sollte dann auch kein herkömmliches (leistungsorientiertes) Ausdauertraining gegen "Depressionen wegen der langen Lockdowns" verschrieben werden.

Ärztinnen und Ärzte müssen auch gesetzliche beziehungsweise behördliche Vorgaben beachten. Nicht jede Behandlung, so sinnvoll sie im Einzelfall auch sein mag, wird von den öffentlichen Krankenkrassen finanziert. Es ist daher dringend zu empfehlen, vor Behandlungen nachzufragen, ob einem selbst diesbezüglich Kosten entstehen.

Aufklärung, Selbsthilfegruppe und Zweitmeinung

Allgemein gilt: Je mehr man nachfragt, desto eher ist man umfassend informiert – und desto wahrscheinlicher ist eine kompetente Behandlung. Zeit ist ein knappes Gut, gerade in Ordinationen. Wirken daher Patientinnen und Patienten mit, kann die Behandlung wesentlich effizienter erfolgen als bei bloß passiver Inanspruchnahme einer Behandlung. Je informierter die zu behandelnde Person, desto erfolgversprechender auch der Pfad, eine tatsächlich angemessene (und bestenfalls lindernde oder heilende) Behandlung zu finden. Anlaufstelle für Selbstinformation als Patientin und Patient ist etwa die Selbsthilfegruppe Long Covid Austria.

Es kann auch niemals schaden, sich medizinische Zweitmeinungen einzuholen. Je informierter die Entscheidungsbasis ist, desto zielgerichteter kann die Entscheidung für eine Behandlungsvariante erfolgen. Die Entscheidung, welcher Behandlung man sich unterziehen will, liegt letztlich immer bei der betroffenen Person selbst.

Schlägt eine Behandlung fehl oder wurde man ohne ausreichende Aufklärung behandelt und leidet an negativen Folgen, kommt aus rein juristischer Sicht unter Umständen die Geltendmachung von Ansprüchen in Betracht: Schmerzensgeld, Behandlungskosten und sonstiger Aufwand. Wichtig ist es in solchen Fällen, eigene Erlebnisse genau zu dokumentieren (Gedächtnisprotokolle, Beschwerde- und Symptomtagebuch, Befundberichte, bildgebendes Material etc.) und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte jedenfalls zu wechseln.

Wegen des sich erst konsolidierenden medizinischen Standards zur Behandlung von Long-Covid-Symptomen beziehungsweise der durch Covid-19 verursachten Folgeschäden dürfte es derzeit allerdings schwierig sein, Fehlbehandlungen und die daraus resultierenden Schäden kausal nachzuweisen. Umso wichtiger ist es, dass Patientinnen und Patienten (oder deren Angehörige) ihre Rechte bereits während der Behandlungen wahrnehmen und entsprechend informiert über ihre Symptome berichten. Schließlich geht es darum, den derzeit laufenden sozialmedizinischen Lernprozess konstruktiv zu gestalten und die größtmögliche Anzahl betroffener Patientinnen und Patienten zu rehabilitieren, damit sie wieder ein Leben in Würde und mit gesellschaftlicher Teilhabe führen können. (Mirella Maria Johler, 30.5.2022)