Es wäre übertrieben zu sagen, dass Katrin Segel mit Senf statt Muttermilch großgezogen wurde, aber ganz falsch ist es natürlich auch nicht. Schließlich entstammt sie einer Senfdynastie, die seit knapp 100 Jahren die Österreicher mit entsprechenden Spezialitäten versorgt.

"Es war ganz normal, vor dem oder nach dem Kindergarten in die Firma zu gehen", erzählt sie. Die befreundeten Kinder hatten dann vermutlich oft eine Wurstsemmel mit dabei und veredelten sie mit dem Englischen Spezialsenf, für den vor allem die Firma Ramsa Wolf bekannt ist. Früher oder später kamen dann alle Klassen aus den Schulen, in die Katrin Segel ging, in den Betrieb der Eltern, um sich anzuschauen, wie der Senf in die Tube kommt.

Zunächst aber gab es von Ramsa Wolf nur die Wolfs, als Johann I. im Jahr 1926 die "Wiener Senfmühle" draußen in Wien-Erdberg gründete, nachdem er zuvor beim Mautner das Senfmüllerhandwerk gelernt hatte. Sohn Johann II., "mehr so der Herumtreiber", verkaufte die Firma aber schon wieder samt Sohn Johann III. als Geschäftsführer an einen Branchenfremden, was natürlich nicht gutgehen konnte. So gründete der III., der Katrin Segels Großvater war, seine eigene Senffirma, diesmal in Hernals draußen am Diepoldplatz, und die führt nun seine Enkelin Katrin in fünfter Generation.

Katrin Segel (li.) führt in fünfter Generation.
Foto: Christian Fischer

Ein paar Bezirke weiter, im fünften nämlich, ging 1929 derweil die Gründung der Senffabrik Ramsa vonstatten. Gründer Raimund geriet während des Zweiten Weltkriegs in polnische Kriegsgefangenschaft und nahm von dort – Polen ist ein erklärtes Senfliebhaberland! – die Rezeptur für den Englischen Spezialsenf von einem polnischen Senfmüller mit, der sich ab Produktionsbeginn sofort als Verkaufsschlager entpuppte. "Englisch" und nicht "polnisch" hieß der Senf übrigens deswegen, weil "Englisch" die Sortenbezeichnung für "scharf" ist.

Senf statt Butter am Brot

Von der Zeit nach dem Krieg wusste Katrin Segels Urgroßmutter noch zu erzählen: "Wenn die Leute kein Geld für die Butter am Brot haben, dann schmieren sie sich Senf darauf." In den 1960er-Jahren dann, erzählt sie, "gab es viele, die in Wien Senf produzierten, man fuhr herum, kaufte ein, verkaufte, kochte, traf sich, redete". Johann Wolf III. zum Beispiel sprach irgendwann mit Raimund Ramsa, der für seine Senffirma keinen Nachfolger hatte, sich aber dringend einen wünschte. Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen, als die beiden Herren ihre beiden Firmen zusammenführten. So verfeinerte ab 1969 der Englische Spezialsenf aus dem Hause Ramsa Wolf die Leberkässemmeln der Österreicher und Österreicherinnen und gerne auch die Käsekrainer, das Burenhäutl oder, in den entsprechenden Gastrolokalen, die gegrillten Ripperl.

Katrin Segels Mutter Lieselotte, vierte Generation, machte zu dieser Zeit ihre Lehre im Betrieb, 1974 war sie gerade noch blutjunge Senfmüllerin und Bürokauffrau, als Johann III. unerwartet mit 52 Jahren starb. Zusammen mit Ottilie Wolf, der Witwe des Patriarchen, übernahm sie die Geschäfte. Die Gegend 16. und 17. Bezirk war, erzählt Katrin Segel, immer eine mit vielen produzierenden Betrieben: Manner, Ottakringer, Meinl, Staud’s. "Man kannte und schätzte einander, unterstützte sich, wenn einmal eine Maschine klemmte, oder gab – wie Staud’s – Ratschläge, wenn es um das Abfüllen in Gläser ging."

Klar, dass für Katrin beim Meinl schon eine Lehrstelle reserviert war. Sie aber entschied sich für eine HAK-Matura und arbeitete danach in einer Steuerberatungskanzlei sowie für einen Traktorhersteller im Controlling.

Das Rohmaterial: Senfkörner
Foto: Christian Fischer

Die Arbeit mit Zahlen gefiel ihr, und irgendwann 1999 gefielen ihr auch die Zahlen des elterlichen Betriebes so gut, dass sie doch noch einstieg. "Bis in die 2000er-Jahre gab es eigentlich nur die zwei Hauptmarken Kremser und Estragon", erzählt sie ("Der Kremser ist immer der Süße, der Estragon der beliebteste Senf der Österreicher und immer aus Estragon-Kraut gemacht"), plus halt ihren Englischen Spezialsenf – "Das Glück, das wir haben" –, mit dem sie in Österreich bei 1,5 Mio. produzierten Tuben und 100.000 Gläsern Marktführer sind. Sie selbst, sagt sie, habe hingegen immer schon gerne Käsekrainer gegessen, und zu der passe halt der Kremser am besten.

1,5 Millionen Tuben Senf produziert man im 14. Bezirk.
Foto: Christian Fischer

Eine Tube zum Essen

Wie viel Senf wird dann überhaupt in so einer Senf-Familie gegessen? "Mein Schwiegervater ist ein leidenschaftlicher Senfesser!", lacht die Chefin. "Eine ganze Tube beim Essen ist nichts Seltenes bei ihm." Und als der Schwiegervater zum ersten Mal bei ihren Eltern zu Besuch war, hatten die nur eine halbe, zerquetschte Tube daheim und mussten bei der Großmutter im Nebenhaus um mehr bitten. Der Schwiegervater ist also mehr als glücklich, dass sein Sohn heute in einem Betrieb arbeitet, der Senf produziert. Was wiederum umgekehrt ihrem Vater ein großes Anliegen war, dass ihr Mann in die Senfproduktion einsteigt. Anfangs meinte sie noch: "Na, du bist lustig! Wo soll ich denn so einen finden?" Aber heute ist ihr Mann, der jeweils die beiden geborenen Kinder in Karenz betreute, für den Betrieb zuständig, sie für den Betrieb und alles andere Mögliche auch. Und das Glück der Familie steht über dem der Firma, das ist ihre Prämisse.

Tanks mit Sonnenblumenöl

"Fad wird mir nie!", sagt sie, die den Standort 2014 vom 17. in den 14. Bezirk hinaus in den Auhof verlegte. "Das Gebäude im 17. war einfach nicht mehr ‚state of the art‘, es hätte sehr vieler Investitionen bedurft, das war zu teuer." Das benötigte Senfkorn wurde früher in Ungarn und Tschechien angebaut, wegen der Folgen des Klimawandels könne sie nun aber sogar bei drei Bauern in Niederösterreich auf 40 bis 50 Hektaren produzieren lassen.

Das Korn wird mit dem Mähdrescher geerntet und kommt in 1000-Kilo-"Big Bags", in denen geliefert wird. Nach eingehender Prüfung ("Ist es muffig, abgestanden?") wird es in der Hammerschlagmühle aufgebrochen, "dann haben wir so etwas wie Senfmehl", erklärt die Chefin. Im Lager stehen Tanks mit Essig und Sonnenblumenöl, dem "Produkt der Stunde", weil es derzeit so schwer zu kriegen und extrem teuer sei.

Senfmüller Chuckwuma Enebuse bei der Zubereitung.
Foto: Christian Fischer

Über ein Rohr bewegt sich das "Senfmehl" in den Produktionsraum und fällt in zwei große Töpfe, in denen der Senf gemacht wird. Senfmüller Chuckwuma Enebuse (46) mischt Wasser, Essig, Zucker, Salz und anderes dazu, die breiige Maische kommt in die Senfmühle, und aus der läuft der Senf in die jeweiligen Lagerfässer. Aus diesen kommt der Senf in die Tube oder das Glas. Dabei hilft Katrin Segel immer noch gerne ihrem Vorarbeiter Zsolt Polák (39) und den drei Mitarbeiterinnen des familiären Betriebs. Bald werden sie alle in die Pause gehen. Ganz sicher wird es zum Essen Senf geben. Was auch sonst? (Manfred Rebhandl, 25.5.2022)