Vor der Pandemie war Katalin Karikós Forschungsarbeit nur Fachleuten bekannt. Mittlerweile hat eine Mehrzahl der Menschen in Österreich mRNA-Impfungen gegen Sars-CoV-2 erhalten, die auch ihr zu verdanken sind: Jahrzehntelang konzentrierte sich die aus Ungarn stammende Biochemikerin auf die Messenger-RNA (mRNA), also jene Moleküle, die Informationen von der DNA an die Proteinfabriken einer Zelle übertragen.

Die ungarisch-amerikanische Molekularbiologin Katalin Karikó ist Senior Vice President bei Biontech und gilt als Nobelpreiskandidatin: Ihre Forschung ebnete den Weg für die Produktion effektiver Impfstoffe gegen den Covid-19-Erreger.
Foto: Regine Hendrich

Dass die sensiblen Moleküle therapeutisch nutzbar gemacht werden könnten, schien lange undenkbar. Bis der hartnäckigen Forscherin, die in die USA ausgewandert war, mit ihrem Kollegen Drew Weissman der große Wurf gelang: Sie konnten eingebrachte RNA so verändern, dass sie vom Immunsystem nicht angegriffen wird. Ein Meilenstein, der eine neue Kategorie von Impfstoffen ermöglichte, die die Covid-19-Pandemie durch Impfungen eindämmte und Menschenleben rettete.

Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass Karikó und Weissman mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden. Ein Preis, der sich gut machen würde neben vielen anderen Ehrungen – etwa der Wilhelm-Exner-Medaille, die Karikó vergangene Woche in Wien verliehen bekam, und den olympischen Goldmedaillen, die ihre Tochter Susan Francia als Ruderin nach Hause brachte.

STANDARD: Fachleute bezeichneten die Entwicklung der Impfungen gegen Covid-19 als eine der größten wissenschaftlichen und medizinischen Leistungen. Als eine Schlüsselfigur dieser Entwicklung: Stimmen Sie dieser Aussage zu?

Karikó: Durchaus, wenn man bedenkt, wie viele Personen an Covid-19 erkrankt und verstorben sind. Das ist natürlich nicht nur mir zu verdanken: Wissenschaft ist Teamsport. Dazu gehören nicht nur meine Kolleginnen und Kollegen bei Biontech wie Özlem Türeci und Uğur Şahin. Viele Menschen haben über Jahrzehnte in diesem Bereich geforscht, und wir bauen auf ihren Ergebnissen auf. Immer, wenn ich einen Preis annehme, tue ich das auch in ihrem Namen.

STANDARD: Wie reagieren Sie auf Vorwürfe, dass die mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 zu schnell zugelassen wurden, die ja die ersten mRNA-Impfstoffe überhaupt waren?

Karikó: Schon in den Neunzigerjahren gab es einige Studien zu mRNA. Aber viele Beteiligte haben nach wenigen Publikationen aufgegeben, weil die RNA etliche Probleme verursachte: Sie konnte nur für kurze Zeit sehr kleine Mengen an Proteinen produzieren. Im Körper zerfällt RNA sehr schnell, und sie war kaum lagerfähig. Schlechte Voraussetzungen, um ein Arzneimittel zu entwickeln, daher waren die Investoren auch nicht interessiert. Über die Jahrzehnte wurde das stückchenweise verbessert: Etwas mehr Protein wurde produziert, die Moleküle hielten sich länger. Bis endlich eine Behandlung möglich war, die die Gesundheit signifikant verbessert. Konferenzen zu mRNA-Therapien gab es schon vor zehn Jahren, RNA-Firmen existieren auf der ganzen Welt. Das war vielen aber unbekannt, und deswegen wirkte das auf sie, als wäre die Technik urplötzlich aufgekommen.

"Die Angst vor wissenschaftlichem Fortschritt und neuen Technologien gab es auch schon vor hundert Jahren."

STANDARD: Wie haben Sie die Debatten rund um Impfskepsis erlebt?

Karikó: Es gibt immer Kritiker. Wenn es sich um konstruktive Rückmeldungen von Fachleuten handelt, verbessert das die Wissenschaft. Wenn Daten und Beweise aber schon vorhanden sind und die Kritiker sich diese nicht anschauen, ist das kontraproduktiv. Vor allem, wenn das Menschen mit wissenschaftlichen Abschlüssen und hohem Ansehen sind. Der kürzlich verstorbene französische Virologe Luc Montagnier, der für seine fragwürdigen Aussagen stark kritisiert wurde, war immerhin Nobelpreisträger. Bei konträren Aussagen stellt sich in der Gesellschaft die Frage: Welchen Forschenden sollen wir glauben?

STANDARD: Wie lässt sich das Dilemma lösen?

Karikó: Was Sie und ich tun können, ist, die Öffentlichkeit in Sachen Molekularbiologie zu bilden und zu kommunizieren, was heute bereits möglich ist. Der wissenschaftliche Fortschritt ist extrem: Zu Beginn der Aids-Krise war es schwierig, das HI-Virus überhaupt nachzuweisen. Heute kann man einen Test zu Hause machen und weiß binnen Minuten, ob man positiv oder negativ ist. Die Angst vor wissenschaftlichem Fortschritt und neuen Technologien gab es aber auch schon vor hundert Jahren. Manche Menschen bereichern sich selbst, wenn sie bei anderen Personen Angst schüren, die sich nicht gut auskennen. Dabei verdrehen sie Wahrheiten leicht, um plausibel zu wirken. Man kann zum Beispiel sagen, dass frische Luft guttut. Aber wenn man frische Luft in einen Auto- oder Fahrradreifen pumpt, fährt man damit nicht besser. Oft ist das relativ harmlos und schadet wenigstens nicht, trotzdem verdienen manche viel Geld mit ähnlichem Hokuspokus.

"Die Debatte um Patentfreigaben ist komplex und alles andere als schwarz-weiß."

STANDARD: Welche Hürden sehen Sie bei der Wissensvermittlung?

Karikó: Manche sagen, dass es zu kompliziert ist, Grundlegendes über die Wissenschaften zu vermitteln. Aber dann müssen wir eben Vergleiche finden. Heutzutage benutzen ganz normale Leute Fachbegriffe wie PCR-Test und mRNA-Impfung. Sie können dazulernen. Und viele haben mit Blick auf Corona berechtigte, gute Fragen gestellt, auf die man nicht immer gute Antworten fand. Wenn die Fachleute in den Labors bleiben und an ihrer Stelle Personen, an denen die letzten 20 Jahre Immunologie vorbeigegangen sind, Interviews geben, können diese Personen den falschen Eindruck erwecken, glaubwürdige Experten zu sein.

STANDARD: Impfstoffproduzenten wie Biontech wurden dafür kritisiert, große Profite zu machen und die Patentrechte nicht zu teilen. Wie sehen Sie das?

Karikó: Die RNA ist zwar relativ einfach herzustellen, komplizierter wird es aber beispielsweise bei den Partikeln, in die sie zum Transport eingeschlossen wird. Dazu gehört die Qualitätskontrolle: Passt die Partikelgröße? Ist die RNA noch intakt? Bei einem Rezept reicht es nicht aus, zu wissen, dass es zwei Eier braucht. Es geht auch um Nuancen, die man normalerweise nicht aufschreibt. Wenn man Eier trennt, darf kein Eigelb ins Eiweiß kommen, weil sich das dann nicht zu Eischnee schlagen lässt – das besagt die Kolloidchemie. Wenn Impfstoff an verschiedenen Orten hergestellt wird, muss Detailwissen mitgelehrt werden. Ein Teil der Impfstoffproduktion von Moderna wurde nach Japan ausgelagert. Die Folge: Etliche Dosen mussten zerstört werden, weil es trotz der Anleitungen zu Fehlern kam. Meiner persönlichen Meinung nach sollte der gleiche Impfstoff – effektiv und von hoher Qualität – für alle verfügbar sein. Es spielen aber viele weitere Faktoren eine Rolle.

STANDARD: Welche sind das?

Karikó: Zum Beispiel die Tatsache, dass manche Komponenten nur begrenzt verfügbar waren. Wenn ein Stoff in jedem Land separat produziert wird, werden manche Länder gewisse Komponenten nicht an andere weggeben. Der Preisfaktor spielt eine Rolle: Wird das Mittel an einem Ort in großer Menge hergestellt, kann das günstiger und dadurch für mehr Menschen und Länder zugänglich sein. Manche Länder führten eigenständige klinische Studien durch, bevor sie einen Impfstoff zuließen, wodurch er erst später verfügbar wurde. Die Sache ist komplex und alles andere als schwarz-weiß. Aber viele Kritikerinnen und Kritiker sind skeptisch gegenüber großen Pharmakonzernen. Dabei arbeiten auch dort Menschen, die ihr Bestes gegeben haben, um gute Impfstoffe und Studien zu entwickeln.

"Meine Philosophie ist, dass wir bei Schwierigkeiten alle Aufmerksamkeit darauf konzentrieren sollten, Lösungen zu finden, statt zurückzublicken oder uns mit anderen zu vergleichen."

STANDARD: Ließen sich ein paar der aktuellen Probleme mit Covid-19 prinzipiell durch neue mRNA-Impfungen lösen – etwa ein besserer Schutz gegen neue Varianten?

Karikó: Davon kann man träumen, aber da gibt es noch viele Einschränkungen. Natürlich wäre es am besten, einen Impfstoff zu haben, der gegen alle Varianten wirkt, vielleicht sogar noch gegen mehrere Viren auf einmal. Letzteres geschieht schon bei der Kombination von mRNA, die etwa gegen Covid und Grippe immunisiert. Aber der Bereich, mit dem ein Virus an einer Zelle andockt, kann sich sehr schnell verändern. Manche Forschungsgruppen arbeiten daran, eine stabilere Region der Viren anzugreifen – dann kommt das Virus in die Zelle hinein, aber im Idealfall wird es dort neutralisiert und kann keinen Schaden mehr anrichten. Auch große Firmen investieren in diesen Bereich.

STANDARD: Wohin entwickelt sich die mRNA-Forschung weiter?

Karikó: Mein Fokus lag immer darauf, Messenger-RNA herzustellen, die therapeutisch wirksame Proteine produziert. Derzeit gibt es schon eine klinische Studie zu mRNA, die in Tumoren injiziert wird und Zytokine herstellt, also Eiweißstoffe, die etwa das Tumorwachstum hemmen können. Das könnte bei verschiedenen Krebsarten mit festen Tumoren angewandt werden, zum Beispiel bei Magenkarzinomen und Hodenkrebs. Wir wollen auch Erbkrankheiten besser behandeln können, Erkrankungen der Herzarterien und der Leber. Für neurologische Krankheiten ist das derzeit sehr schwierig, aber irgendjemand wird sich bestimmt etwas einfallen lassen.

STANDARD: Nach den Hürden, die Sie selbst überwinden konnten: Wie motivieren Sie Kollegen und Kolleginnen?

Karikó: Meine Philosophie ist, dass wir bei Schwierigkeiten alle Aufmerksamkeit darauf konzentrieren sollten, Lösungen zu finden, statt zurückzublicken oder uns mit anderen zu vergleichen. Das habe ich von Hans Selye gelernt, der den Begriff "Stress" prägte und sagte, man müsse negativen in positiven Stress umwandeln – in Begeisterung, in das Erwartungsvolle. Wir müssen auch nicht perfekt sein – ich kenne insbesondere viele Frauen, die eine ideale Partnerin, Mutter, Tochter und Nachbarin sein wollen. Sie müssen sich dabei nicht zwischen Karriere und Kindern entscheiden. Das wollte ich vorleben, und meine Tochter ist immerhin zweifache Olympiasiegerin. Sie erlebte meine harte Arbeit mit, ich habe sie nicht zu sehr bemuttert, und sie lernte, unabhängig zu sein. (Julia Sica, 25.5.2022)