Campino: "Ich fand die Verbrüderung von Punk und Reggae immer bewundernswert, darauf war ich stolz."

Foto: Regine Hendrich

Am Freitag erscheint die Werkschau Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen. Die Hosen sind mit Die Ärzte die erfolgreichste deutsche Punk-Band; am 2. Juli gastieren sie in der Wiener Krieau. Sänger Campino war vorab in der Stadt, mal schauen, was ist.

Standard: Sie werden im Juni 60, kommen langsam ins My-Way-Alter: Regrets, I've had a few …" – welche gibt es da bei Ihnen?

Campino: Die Sache mit der 60 hat sich ja schon länger angekündigt und ich freu mich, dass ich das geschafft habe und immer noch da bin. Das hätte ich mir mit 20 nicht vorstellen können. Allen, die diese Altersschwelle noch nicht erreicht haben, kann ich zurufen: Ich hab mich zwar von vielen Dingen verabschieden müssen, aber mein Leben ist nicht langweiliger geworden!

Standard: Wovon zum Beispiel?

Campino: Ich kann es mittlerweile vergessen, dass ich jemandem, der 30 ist, auf dem Fußballplatz Paroli bieten kann.

Standard: Und was wären die Regrets, was bedauern Sie?

Campino: Da gibt es vieles. Der Mensch neigt zu einem "Weiter so", wenn etwas gut ausgegangen ist. Das birgt immer auch die Gefahr, in die Wiederholungsschleife zu kommen. Aber wir lernen aus Niederlagen mehr als von Triumphen. Es gibt sicher eine lange Liste an Leuten, bei denen ich mich entschuldigen müsste bzw. es zum Teil schon getan habe, aber manchmal sind Dinge geschehen, die ich nicht mehr ändern kann. Ich werde aber versuchen, es beim nächsten Mal anders zu machen.

Standard: Gab es früher eine größere Toleranz gegenüber Fehlern? Heute reicht ein falsches Wort, schon gibt’s Shitstorm.

Campino: Ich denke, dass wir alle noch immer lernen müssen, mit der Wirkung des Internets umzugehen. Und der Einfluss des Digitalen wird immer noch stärker. Den gedachten Shitstorm hat es schon immer gegeben: Wenn man ein unangenehmes Statement raushaute, haben das damals schon Leute unmöglich gefunden. Man hat sie allerdings nicht gesehen oder gehört, das fand häufiger im Privaten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Durch die Meinungsforen und die Anonymität im Netz fühlt sich jeder aufgefordert, ungefiltert seine Gedanken zu äußern, egal wie krude sie sind. Denn es gibt ja vermeintlich keine Konsequenzen. Das bringt eine hässliche Seite der Seele zum Vorschein, der wir uns vorher nicht so bewusst waren. Aber ich stelle mal die Behauptung auf, der Mensch ist nicht schlechter geworden, man erkennt ihn nur besser.

Standard: Punk hat negative Reaktionen ja wie einen Orden getragen. Das war oft ein Zeichen dafür, dass man einen Nerv getroffen hat.

Campino: Ja. Ich fand das Provozieren nur um der Provokation Willen allerdings schon immer langweilig, aber wenn es wichtig ist, kann man es sich nicht leisten, den Mund zu halten.

Standard: Ihr Freund Gerhard Polt wurde gerade 80. Eine Würdigung titelte mit dem Zitat "Ich kläre nicht auf. Ich trinke Bier.".

Campino: Er ist für mich der König der Punks, wir lieben seinen Humor. Seine Art der Lebensbetrachtung ist ein riesiges Geschenk. Jede Stunde mit ihm ist amüsant und lehrreich. Solche Begegnungen haben immer das Leben bei den Toten Hosen ausgemacht, ohne die Band hätte wir ihn vielleicht nie gefunden.

Standard: Mit 60 haben Sie sicher schon einmal das Wort Altpunk gehört …

Campino: … das hör ich schon seit 30 Jahren …

Standard: … jetzt werden sie ein "alter weißer Mann" auch noch. Wie geht es Ihnen mit solchen Etikettierungen?

Campino: So wichtig nehme ich mich nicht. Ich glaube, dass es viel essenzieller ist, dass ich als Person mein Alter, meine Lebensumstände und das, was die Gesellschaft gerade bewegt, mit auf die Bühne nehme, wenn ich die Leute unterhalte. Nick Cave würde man nie fragen, wie lange er das noch machen will, weil er so ein großer Geschichtenerzähler ist und im Alter noch eine Spannung erzeugt wie mit der Birthday Party Ende der 1970er.

Standard: In Würde altern ist ohnehin langweilig, es ist wohl schöner, sich auch mit 80 noch zum Affen zu machen, wie ein Mick Jagger.

Campino: Ich glaube nicht, dass Jagger sich zum Affen macht, aber es gab mal eine Zeit, in der er kurz davor war. Das liegt mittlerweile lange hinter ihm. Immer dann, wenn man den Eindruck bekommt, die Person auf der Bühne wackelt jetzt besonders mit dem Hintern, weil sie beweisen will, dass sie es noch drauf hat, weiß man, dass gerade jemand falsch abbiegt.

Standard: Rock und Punk haben eine große Narrenfreiheit genossen, samt Begleiterscheinungen, die heute aufstoßen. Wie sehen Sie moralische Beurteilungen der Vergangenheit durch die zeitgeistige Brille?

Campino: Da gibt es schon zwischen Rock und Punk deutliche Unterschiede. Diese Hybris des Sich-abfeiern-Lassens und Schampus-trinken-im-Flieger, ist eher Teil einer Hardrock-Attitüde. Im Punk war das verpönt. Man sagte "Hör auf, diese Leute zu bewundern. Mach’s doch selbst!" Bei uns gab es auch schon immer ein anderes Bewusstsein, in dem Groupietum und Angeschmachtet-werden verachtet wurden. Mädchen und Jungs liefen in derselben Uniform rum, denselben Lederjacken, man war kumpelmäßig befreundet, klar war man auch miteinander im Bett. Aber das hatte ganz andere Vorzeichen.

Standard: Punk als moralische Zäsur?

Campino: Mein Held war Joe Strummer. Dem ging es immer um mehr als Musik, er wollte nicht bewundert werden. Wenn man solche Vorbilder hat, versucht man auch nach deren Vorstellung zu leben. Deshalb kam dieses klischeehafte Rockstarleben für mich nie in Frage.

Standard: Joe Strummer hat die kulturelle Vielfältigkeit seines Umfelds absorbiert: The Clash haben Reggae und Dub gespielt. In Deutschland wurde jetzt eine Musikern ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt. Das sei Ausdruck von Kolonialismus und Rassismus. Was fällt Ihnen dazu ein?

Campino: Mir ist dazu nichts mehr eingefallen. Ich fand das ein hervorragendes Beispiel dafür, wie grundsätzlich gut Gemeintes in eine völlig falsche Richtung gehen kann. Wenn wir anfangen, uns auf Nebenkriegsschauplätzen zu bekämpfen, geht das Wesentliche verloren. Ich fand die Verbrüderung von Punk und Reggae immer bewundernswert, darauf war ich stolz und liebte zum Beispiel die Bad Brains. Oder den Mix bei den Specials: Schwarze und Weiße zusammen bringen einen Saal zum Toben, Das waren Höhepunkte. Für mich wird es erst richtig spannend, wenn es um mehr geht als Musik.

Standard: Heute gilt das einer lauten Minderheit als kulturelle Aneignung.

Campino: Das ist das berühmte Thema "Pippi Langstrumpf und das N-Wort" – soll man jetzt das Buch umschreiben, nur weil in damaliger Zeit Dinge so formuliert wurden, die man heute nicht mehr sagen würde? Ich finde, bei solchen Veröffentlichungen würde es reichen, ein Vorwort zu schreiben, das das erklärt und einordnet. Mein Ansatz lautet eher Erinnerung und Aufarbeitung. Was kommt woher? Das ist wichtig – und da muss man nicht alle Straßenschilder oder Denkmäler der Vergangenheit abschrauben und wegwerfen, sondern könnte versuchen zu differenzieren und Tafeln anbringen und erklären, was damit nicht in Ordnung ist. Aber dass man das alles einfach wegzensiert und zuschüttet, als hätte es das nie gegeben, das ist für mich der falsche Weg.

Standard: In Deutschland wurde gerade in offenen Briefen der Umgang Deutschlands mit Putins Krieg gegen die Ukraine behandelt. Waffen liefern, ja oder nein. Wie sehen sie das als Wehrdienstverweigerer?

Campino: Ich finde, beide Seiten haben Argumente, die nachvollziehbar sind, aber halte es für fürchterlich, dass den Menschen in der Ukraine das Leben gerade völlig zerschossen wird. Wenn man dort lebt und dann einen Brief liest, in dem Leute im sicheren Deutschland sich auslassen, dass es nicht gut ist, Waffen zu schicken, muss sich das wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen. Und das aus einem Land, das sich noch nicht einmal bemüht, ein Tempolimit einzuführen, um zumindest die Öleinfuhr zu drosseln. Wer so sehr in seiner Komfortzone verbleiben möchte, und nicht über solche Dinge nachdenkt, der ist für mich auch fragwürdig.

Standard: Am Ende solcher Diskussionen kommt dann oft der Satz, dass man Kulturschaffende einfach nicht zur Politik befragen sollte.

Campino: Ich weiß nicht, ob das ein guter Satz ist. Tatsächlich denke ich mir umgekehrt oft bei Politikern, dass sie nicht wissen, worüber sie reden. Ich habe Verständnis für das Zögern, aber manchmal muss man sich ein Herz nehmen. Wenn Großbritannien damals Deutschland nicht erklärt hätte "Sobald ihr Polen überfallt, ist für uns die rote Linie überschritten und wir werden uns einschalten", wo wäre Hitler am Ende gelandet? Wo wären wir heute? Wenn die Amerikaner nicht mit vielen Waffen gekommen wären. Man konnte doch Hitler nicht die Welt überlassen. Genauso wenig kann Europa heute zusehen, wie Putin seine perfiden Machtgelüste auslebt und hoffen, dass die Amerikaner auch dieses Mal zur Stelle sind und das für uns regeln. Wir müssen das Konstrukt Europa schützen. Dazu gehört die Anerkennung, dass es in der Lage sein muss, sich zu wehren, wenn es bedroht wird. Gleichzeitig ist es ein fürchterlicher Gedanke, wie viel Geld in den nächsten Jahrzehnten in die Rüstung gehen wird. Geld, das wir alle für den Klimaschutz viel dringender bräuchten. Das ist eine Tragödie!
(Karl Fluch, 26.5.2022)