Schöne, neue Welt der Körpermutationen: Kristen Stewart (li.) und Léa Seydoux empfinden in David Cronenbergs "Crimes of the Future" Lust bei offenen Fleischwunden.

Foto: Serendipity Point Films 2021

Vor acht Jahren präsentierte David Cronenberg seine Hollywood-Groteske Maps to the Stars in Cannes und beschrieb die Festival-Crowd im Interview als Stamm, der eine Woche später von Zahnärzten oder vielleicht Schönheitschirurgen abgelöst wird. Was er damals nicht gesagt hat: Er vermag ähnlich irritierend von der Getriebenheit und Überschreitungslust solcher Stammesbrüder und -schwestern zu erzählen. Der mittlerweile 79-Jährige faszinierte sich in seinen Filmen schon immer für die Verbindungen von Körpern und Technologien sowie für die neuen libidinösen Energien, die daraus entstehen.

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"Long live the new flesh", lautete etwa die Losung in Videodrome (1983), da war von posthumanen Transformationen noch kaum die Rede. Crimes of the Future ist nun so betitelt wie ein früher Film von Cronenberg von 1970. Um ein Remake handelt es sich jedoch nicht, eher um ein Kompendium, in dem sich viele Echos aus früheren Filmen wiederfinden. Ganz so, als wollte er Fragen nach moderner Fortpflanzung und Evolution im Rekurs auf seine Bodyhorror- und Fetischerkundungen nochmals neu stellen.

Cronenbergs aktuelle Losung kommt aus dem Mund einer von Kristen Stewart gespielten Organ-Aktivistin und lautet "Chirurgie ist der neue Sex". Eine diesbezügliche Hard-Core-Szene zeigt einen Mann, der einen Reißverschluss am Bauch eingepflanzt bekam, die Frau schleckt mit der Zunge darüber: "Kleckere nicht herum." Oralverkehr als Organstimulation, das Bild bleibt jedenfalls hängen.

Sardonischer Witz

An diesem Beispiel sieht man schon gut, dass Crimes of the Future anders als Titane, der themenverwandte Cannes-Sieger von 2021, eher abgebrüht in der Gangart und mit sardonischer Komik durchsetzt ist. Menschen schlafen in seltsamen biotechnologischen Gerätschaften mit dürren Ärmchen, die sie über Nacht optimieren. Andere, mittlerweile schmerzunempfindliche Personen machen sich in dem hypnotischen Kammerspiel mit unerschütterlichem Gleichmut daran, sich Fleischwunden ins Gesicht zu ritzen und die eigenen Körper mit dem Skalpell aufzuschneiden.

Außerdem wachsen den Menschen neue Organe, deren Funktionsweise noch unklar ist. Der Performancekünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) ist besonders fruchtbar hinsichtlich solcher Mutationen und lässt sich die neuen Teile wie Tumoren von seiner Partnerin, der Unfallchirurgin Caprice (Léa Seydoux), bei Live-Spektakeln entfernen – und gleich auch tätowieren.

Cronenbergs Film ist ein Untergrunddrama mit Kunstanbindung. Der Kanadier weiß nur zu gut, dass auf diesem Feld – man denke etwa an die Aktionen von Marina Abramović – gern Transgressionen geschehen, die dann irgendwann zur Normalität werden. In der pandemischen Wirklichkeit wirkt Crimes of the Future wie ein unerhörter Zwischenruf, der seinen Nachhall aus der Verweigerung klarer moralischer Positionen bezieht. Empörung war gestern, nunmehr geht es darum, mit neuartigen Empfindungen umgehen zu lernen.

Neueste chirurgische Praktiken

Wer jedoch glaubt, er sei bei diesem Film in der Science-Fiction gelandet, braucht in Cannes nur auf einen Reality-Check das Kino zu wechseln. In der Quinzaine des réalisateurs zeigte das radikale Dokumentaristenpaar Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor seine jüngste Arbeit De humanis corporis fabrica – Andreas Vesalius’ gleichnamiges Anatomiebuch wird hier auf neueste chirurgische Praktiken hin aktualisiert, die in den meisten Fällen auf Kameras angewiesen sind.

In den zwei Stunden dieses herausfordernden Films wird man zum Zeugen von operativen Eingriffen, seien es Bohrungen am Schädel, Verschraubungen der Wirbelsäule, sei es ein Kaiserschnitt oder eine Röhre, die ins Innere eines Penis führt. Paravel und Castaing-Taylor, die am Sensory Ethnographic Lab an der Harvard University unterrichten, befreien den Dokumentarfilm von seiner anthropozentrischen Fixierung und bieten einen "unmöglichen" Blick ins Innere an. Wie lautet bei Cronenberg die Antwort auf die Frage, was dort zu finden sei? "Outer Space" – der Weltraum. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 25.5.2022)