Alexander Van der Bellen hat Humor, Selbstironie und eine gewisse Ruhe. Er hat bisher praktisch nur mit schlechten bis wenig überzeugenden Regierungen zu tun gehabt und amtierte in einer Zeit innerer und äußerer Unruhe (Ibiza, korruptionsgesättigtes Scheitern von Türkis-Blau, Scheitern des Kanzlers Sebastian Kurz, Corona, Ukraine-Krieg).

Das hat er ganz gut begleitet und diskret auch gewisse Weichen gestellt. Er ließ sich allerdings nach dem Ibiza-bedingten Bruch von Türkis-Blau eine türkise De-facto-Alleinregierung unter Sebastian Kurz (mit ein paar schon vergessenen "Experten") aufschwatzen, ehe dann diese Zumutung nach ein paar Tagen von SPÖ, FPÖ und Jetzt (Liste Pilz) im Parlament gekippt wurde. Dann setzte VdB eine echte Expertenregierung unter Kanzlerin Brigitte Bierlein ein, die ein halbes Jahr ganz gut amtierte.
So weit die erste Amtszeit. Nun soll eine zweite folgen. Sie wird unter völlig veränderten äußeren Bedingungen stattfinden. Putins verbrecherischer Krieg ändert alles – eine Hungersnot und Flüchtlingsströme drohen, die nordischen Neutralen fliehen in die Nato, "der Westen" wird plötzlich wieder relevant, die Globalisierung könnte teilweise rückabgewickelt werden, Europa muss sich fragen, ob es weiter große Teile seiner Wirtschaft von aggressiven Diktaturen wie Russland und China abhängig machen kann.
Selektive Einwirkung
Und in Österreich stellt sich heraus, dass unsere Politik, aber auch unsere Bürokratie auf große Krisen nicht wirklich gut eingestellt sind. Das Corona-Management war – und ist – ein Murks. Es gab keine wirkliche Impfkampagne, es gab dutzende einander widersprechende, zuerst rigorose, dann populistisch aufgeweichte "Maßnahmen" – man darf jetzt zur Hauptreisezeit in den überfüllten Zügen die Masken runternehmen – und jede Menge Provinzialismus. Es gibt keinen wirklichen Plan, wie man aus der idiotischen und möglicherweise kriminell herbeigeführten 80-Prozent-Abhängigkeit vom russischen Gas wieder herauskommt.
Und es gibt, ganz grundsätzlich, immer noch nicht die Erkenntnis, dass die Russland- und Putin-Liebe, ob wirtschafts- oder außenpolitisch, auf einer massiven Selbsttäuschung beruhte.
Auf all diese Fragen kann ein Bundespräsident nur selektiv und eher am Rande einwirken. Er kann auch nicht wirklich die Zustände der heimischen Innenpolitik beeinflussen, die moralische Verlotterung beseitigen oder Reformgesetze (Informationsfreiheit etc.) durchbringen. Das ist von der Verfassung her nicht die Zuständigkeit des österreichischen Bundespräsidenten.
Aber er kann zweierlei tun: Er kann ein diskretes Zentrum einer hochstehenden Reformdebatte werden, und er kann signalisieren, dass er bestimmte Ministerinnen und Minister, eventuell auch Kanzler, nicht angeloben würde. Der Bundespräsident muss nicht zu allem etwas sagen. Aber er kann es sagen lassen, indem er unter seiner Schirmherrschaft Reformdebatten veranstaltet, in- und ausländische beste Köpfe zu Diskussionen in die Hofburg einlädt und so ein Klima der intellektuellen Diskussion begünstigt. Und er kann eben diskret signalisieren, dass er bestimmte Leute nicht in einer Regierung sehen will.
Van der Bellen war bisher ein guter Bundespräsident. Er könnte ein noch besserer werden.(Hans Rauscher, 26.5.2022)