Die freie Welt darf es sich im Schlafwagen der Ein-China-Politik nicht mehr gemütlich machen, sagt Alexander Görlach, Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs in New York, im Gastkommentar.

US-Präsident Biden sorgte beim Gipfel mit den Regierungschefs von Japan, Indien und Australien für Verwunderung.
Foto: AP / Evan Vucci

Es ist nicht der Moment für Neutralität und Status quo. US-Präsident Joe Biden hat sich bewusst dazu entschieden, Taiwan militärische Unterstützung zuzusichern, sollte die benachbarte Volksrepublik die kleine Inseldemokratie angreifen. Bis dato hatte Washington eine Zusage, ein solches Commitment, von dem der Präsident vor den laufenden Kameras sagte, dass die USA es eingegangen seien, nicht gegeben. Seit über vierzig Jahren sind die USA und Taiwan eng verbunden, der Taiwan Relations Act von 1979 löste einen Vorgängervertrag ab, der in der Tat militärische Unterstützung explizit erwähnt hatte. Aus Anlass des 40. Jahrestags dieses Abkommens wurde 2019, unter Donald Trump, der Taiwan Travel Act verabschiedet, der die Beziehungen zwischen den beiden Partnern weiter vertiefte.

Eine Koexistenz

Die Volksrepublik, die sich nach dem Tod Maos und der Modernisierung, die sein Nachfolger Deng Xiaoping in die Wege leitete, für die USA öffnete, wurde zum diplomatisch anerkannten China, wohingegen Taiwan seitdem eine Art Sonderstellung auf der Weltbühne hat. Alle wissen, dass Taiwan wie ein eigener Staat funktioniert, aber alle haben sich verpflichtet, es so nicht zu nennen. Die "Ein-China-Politik", auf die Peking seine Vertragspartner verpflichten will, besagt, dass es nur ein legitimes China gebe und dass dies die Volksrepublik sei. Ursprünglich war diese Formel allerdings anders gemeint: Aus dem Chinesischen Bürgerkrieg sind zwei Entitäten erwachsen, die beide für sich in Anspruch nehmen, das "wahre China" zu repräsentieren. Hier geht es um Koexistenz, um Status quo. Die USA haben deshalb niemals den Anspruch Chinas auf die Insel Taiwan akzeptiert, sondern lediglich konstatiert, dass man wahrnehme und anerkenne, dass China Taiwan als einen Landesteil betrachte.

Nach Präsident Bidens unmissverständlicher Zusage, im Fall einer Militärinvasion Chinas zu intervenieren, wurde das Weiße Haus nicht müde zu betonen, dass sich an der Politik der USA nichts geändert habe. Auch Herr Biden selber sagte, dass er nach wie vor zur "Ein-China-Politik" stehe. In der Tat entspricht die Verteidigungsgarantie für Taiwan dem Geist der Übereinkunft, gleichzeitig aber endet mit der Zusage eine neutrale Situation, die auf einen Ausgleich bedacht war, den Peking schon längst aufgegeben hatte. Die USA haben immer betont, und dies 1996 auch mit einem Flugzeugträger in der Taiwanstraße unterstrichen, dass China Taiwan nicht drohen darf, sondern jede Annäherung an die Inselnation gewaltfrei und durch Verhandlungen erzielt werden müsse.

Druck auf Xi

Diesen Kompromiss hat Peking aufgegeben. Machthaber Xi Jinping hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, "zu unseren Lebzeiten" Taiwan, das Xi für eine abtrünnige Provinz Chinas hält, mit dem "Mutterland wieder zu vereinigen". Im vergangenen und in diesem Jahr schickte er deshalb eine Vielzahl von Kampfjets in den taiwanesischen Luftraum. Verbal hat er den Menschen auf Taiwan bereits mehrfach gedroht, ihre Heimat einnehmen zu wollen. Die USA haben nun die Konsequenzen aus Pekings Vorgehen gezogen, das dem Geist der "Ein-China-Politik" widerspricht.

Dies wird zum einen den Druck auf Xi, der bereits wegen seiner verfehlten Russland- und Covid-Politik bei Teilen der Kommunistischen Partei in der Kritik steht, erhöhen. Und es wird zum anderen den Rest der freien Welt unter Zugzwang setzen, den veränderten Koordinaten der chinesischen Expansionspolitik im Westpazifik, vor allem ob des Kriegsgebarens gegenüber Taiwan, durch eine neue China-Politik Rechnung zu tragen. Zu gemütlich hat man es sich im Schlafwagen der "Ein-China-Politik" gemacht und es vor allem aus ökonomischen Interessen vorgezogen, so zu tun, als habe sich nichts geändert.

Wandel durch Handel?

Im Fall Russlands, dessen verheerenden Angriffskrieg gegen die Ukraine Präsident Biden mit einer bevorstehenden Invasion Taiwans durch China verglich, ist der freien Welt ihre verfehlte Politik auf die Füße gefallen. In Deutschland beispielsweise wurde überdeutlich, dass die Sozialdemokratie bereits in den 70er-Jahren die Grundlagen für eine Abhängigkeit von russischem Gas gelegt hat. Als Koalitionspartner Angela Merkels pflegte die SPD ihr Verhältnis zu Russland auf vielen Ebenen weiter, Nord Stream 2 ist nur ein Emblem für die fatale Falschannahme, dass man Wandel durch Handel herbeiführen könne. Diese Fehleinschätzung sitzt so tief in den SPD-Genen, dass es Bundeskanzler Olaf Scholz noch immer schwerfällt, zeitig und klug der von Russland überfallenen Ukraine mit militärischem Gerät zu Seite zu stehen. Auf der Grundlage dessen ist es alles andere als eine verwegene Annahme zu glauben, dass Berlin sich nicht an die Spitze einer neuen europäischen China-Politik stellen wird.

"Peking hat mit mehr als 15 Ländern territoriale Konflikte vom Zaun gebrochen."

Kritiker Bidens sagen, dass dem Präsidenten durch seine Festlegung Spielraum verloren gegangen sei. Das greift zu kurz, denn die Situation in der Region stellt sich so dar, dass Peking mit mehr als 15 Ländern territoriale Konflikte vom Zaun gebrochen hat, die alle dem Ziel dienen, Chinas Machthunger im Westpazifik zu stillen. Jeder dieser Konflikte kann militärisch eskalieren. Die Reise des US-Präsidenten zu seinen demokratischen Alliierten in der Region, das Zusammentreffen mit Politikern aus Japan, Südkorea und Australien, macht an die Adresse Pekings unmissverständlich klar, dass es China mit der gesamten freien Welt zu tun bekäme, sollte es der wahnwitzigen Idee Xis verfallen und tatsächlich die Inselnation Taiwan angreifen. (Alexander Görlach, 25.5.2022)